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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


um so verführerischer und schädlicher, als er die Verdauungsorgane scheinbar, und momentan belebt und kräftigt, in Wahrheit sie aber schädigt und zerstört.

Dr. Dehaut, dem wir den medicinischen Theil dieser Belehrung verdanken, sagt: „Ein fernerer Umstand bei Beurtheilung der Wirkungen dieses Getränkes ist der, daß die Opfer desselben bis zum Tage, an dem irgendeine Krankheit sich deutlich zu erkennen giebt, scheinbar einer ausgezeichneten Gesundheit sich erfreuen; daß aber der Arzt bei der ersten Untersuchung den ganzen Organismus gestört findet. Nichts ist schwieriger, als einen Absynthtrinker zu curiren, denn seine erste Krankheit in diesem Zustande ist gewöhnlich auch seine letzte: sie hat den Tod im Gefolge.“

Unterrichtete und wohlmeinende Männer betrachten nur mit Beunruhigung die reißenden Fortschritte, welche die Leidenschaft des Absynthgenusses in Deutschland und der Schweiz, namentlich in der romanischen Schweiz, macht. Es ist dies um so peinlicher, als man andererseits anerkennen muß, daß die öffentliche Gesundheitspflege es dahin gebracht hat, die mittlere Lebensdauer zu verlängern. Mit großer Genugthuung muß man daher die Bestrebungen aufnehmen, die gerade in der romanischen Schweiz gegen die Trunksucht in’s Werk gesetzt werden. Wenn sie auch noch keine Erfolge aufzuweisen haben, so ist schon der Weg der Erkenntniß, wenn er rechtzeitig beschritten wird, selbst ein Erfolg.

In Frankreich wirkt ein im Jahre 1871 gegründeter Mäßigkeitsverein, der, fern von frömmelnden Tendenzen, der Verthierung der menschlichen Race und der Vermehrung der Geisteskranken durch Anleitung zu rationeller Lebensweise entgegen arbeitet, mit sichtlichem Nutzen. An der Spitze des Unternehmens stehen der Akademiker Dumas, der Irrenarzt Dr. Limier, sowie andere Aerzte und Gelehrte. Der Verein belohnt alljährlich mit silbernen und kupfernen Medaillen sammt Sparcassenbüchern eine gewisse Anzahl von Individuen, Kutscher, Fabrikarbeiter, Krankenwärter in den Spitälern und andere mehr, denen ihre Dienstherren, Arbeitgeber und Vorgesetzten das Zeugniß ausstellen, daß sie sich während einer Reihe von Jahren nie betrunken haben. So wurden in dem Jahr 1875 einundvierzig Personen auf diese Weise belohnt.

Zum Unterschiede von den englischen und amerikanischen Vereinen sind die Frauen grundsätzlich von dieser Auszeichnung ausgeschlossen, weil diejenigen, welche sich betrinken, Auswüchse der Gesellschaft sind, die Mäßigen und Anständigen aber nicht als Ausnahmen behandelt werden dürfen. Außerdem befolgt der Verein das Ziel, durch wissenschaftliche Arbeiten und auf praktischem Wege gegen die Fälschung der Weine und Alkohole zu wirken, durch Verbreitung volksthümlicher Schriften Mäßigkeit zu predigen und durch statistische Publicationen die Fortschritte der aus der Trunksucht entspringenden Uebel wahrheitsgemäß zu beleuchten. Einer solchen Beleuchtung entnehmen wir unter Anderm die Notiz, daß, während noch im Jahre 1864 in vierzehn von hundert Fällen die Ursache eingetretenen Wahnsinns oder Idiotismus dem Genusse geistiger Getränke zugeschrieben werden konnte, dieses Verhältniß seitdem auf fünfundzwanzig Procent gestiegen ist und acht Zehntel der Wahnsinnsfälle bei Officieren auf Rechnung des Absynths fallen. Es ist ferner noch festzustellen, daß die Kinder der Absynthtrinker gewöhnlich mit Dispositionen zur Welt kommen, die zu den schwersten Krankheitssymptomen zählen, zur Epilepsie etc.

Das beste Mittel, dem Uebel zu steuern, wäre das Verbot der Absynthfabrikation; allein die Staaten können bei dem von ihnen geschützten Grundsatze der Gewerbefreiheit nicht dazu gelangen. Es bleibt somit nur noch übrig, auf die Gefahr des Absynthtrinkens aufmerksam zu machen und Diejenigen, die der Leidenschaft noch nicht ganz erlegen sind, dadurch zu retten, daß man ihnen empfiehlt, die gewohnte Portion täglich zu halbiren und sich so nach und nach von ihm ganz zu entwöhnen. Nach Verlauf eines Monats wird sich der Absynthfreund an die halbe Portion gewöhnt haben, nach drei Monaten hat er den Sieg errungen. Der Ersatz wird um so leichter, wenn an die Stelle des Absynths eine Tasse Kaffee tritt. Nur der erste Schritt ist schwer, aber auch dieser ist schon von Erfolg!




Aus der Wandermappe der Gartenlaube.
11. Der Schauplatz des „Ekkehard“.


Während der ganzen Fahrt über Tuttlingen nach Singen hinab hatten wir schon, von dem Ekkehard und der stolzen Hadwiga, der lieblichen Praxedis und dem wunderlich-knorrigen Romeias und noch vielen Anderen geplaudert, die vor Zeiten – wie uns Meister Scheffel erzählt hat – auf dem Hohentwiel ihr Wesen und Unwesen trieben.

Wir waren, wie das so auf Reisen kommt, eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft; mir und meinem lieben Gefährten gegenüber am Fenster saß ein altes Männlein in lockigem weißem Haar, aber der Nacken war noch keineswegs gebeugt von der Last des Alters; die Augen sprühten noch helles Jugendfeuer und um den Mund mit den feinen Lippen zuckte beim Lachen bisweilen ein schalkhaft-satirischer Zug. Neben dem alten Herrn hatte eine behäbige Dame Platz genommen, wohl eine Gutsbesitzerin aus der Umgegend, und dann folgte ein Mann in mittleren Jahren, ein bereits eine leichte Fülle zeigender Passagier mit sorgfältig gebürstetem, nur erst mit wenigem Grau gesprenkeltem Haar. Man sah ihm sofort den katholischen Priester an, aber man wußte auch sogleich, wenn man nur einen Blick in die milden dunkeln Augen, in das freundliche und doch auch nicht der Würde entbehrende Gesicht that, daß man es hier mit keinem Fanatiker, sondern mit einem echten und rechten Priester zu thun hatte.

Mittlerweile hatte der sausende Zug die Hochebene des Höhgaus verlassen und lenkte in die Ebene nach dem Bodensee ein, und mit einem Male änderte sich die Landschaft: kuppenartige Felsmassen mit schroffen Abstürzen ragten in den Abendhimmel hinein und schienen wie gewaltige Riesen an den Pforten der Schweiz Wache zu halten. Wir blickten Alle bewundernd hinaus und suchten das schön groteske Landschaftsbild in unserer Seele zu fesseln, dann schauten wir uns einander fragend an, ob wohl Einer den Cicerone machen könnte, und wir hatten Glück.

„Ja, ’s ischt scheen hier,“ begann die Gutsbesitzerin in trefflichstem Schwäbisch. „Dees ischt der Staufen, dees, der spitze, der Hohenkrähen, dees der Mägdeberg, der lange mit dem breiten Rücken der Hohenstoffel, und dees,“ sie zeigte mit ihrem Finger auf einen gewaltigen, imposanten Klotz, „ischt der Hohentwiel.“

„Ah, der Hohentwiel!“ riefen wir wie aus einem Munde.

„Ja, dees ischt, wo der Scheffel dervon g’schriebe hat,“ versetzte sie mit einem gewissen Selbstgefühl. Man wußte nun, daß sie eine literarisch gebildete Frau war.

Eine freudige Erregung ergriff uns jetzt Alle, unser Gespräch wurde wärmer, es war, als wären wir uns freundschaftlich näher getreten, und als wir im Bahnhofe Singen einfuhren, waren wir übereingekommen, nicht direct bis Constanz zu fahren, sondern hier auszusteigen, zu übernachten und am andern Morgen dem Schauplatze des Ekkehard einen Besuch abzustatten. Als wir aber, noch unserer freundlichen Auskunftgeberin für die instruktive Belehrung bestens dankend, auf den Perron von Singen sprangen, sah Alles dort so primitiv aus, daß uns plötzlich die Besorgniß überkam, es könne bei der kleinen Station gar kein Wirthshaus geben. Doch ein gefälliger Eisenbahnbeamter belehrte uns eines Besseren.

„Es hat schon eins drüben im Dorf,“ beschied er uns und zeigte mit der Hand die Richtung, wo das Dorf liege. Wir bogen daher guten Muthes mit unserem Reiseköfferchen um das Bahnhofsgebäude und erblickten hier zu unserer freudigen Ueberraschung einen hübschen Gasthofswagen.

„Ich sehe Land!“ jubelte der alte Herr. „Fahren Sie uns nach dem ,schwarzen Walfisch’,“ rief er dann dem Kutscher zu.

„Den hat’s hier net,“ versetzte dieser verdutzt.

„Nun, was hat’s dann hier?“ frug der schelmische Alte scheinbar höchst verwundert.

„Die ‚Kron’’,“ antwortete der Rosselenker treuherzig.

„Auch gut,“ erwiderte der also Belehrte sichtlich befriedigt, „begeben wir uns in den Schutz ‚der Krone', meine Herren!“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 537. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_537.jpg&oldid=- (Version vom 8.8.2019)