Seite:Die Gartenlaube (1877) 511.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

ohnehin lang’ Zeit zum Schlafengehen, und ich habe nur gemeint, es wäre jetzt gerade gelegen gewesen, wo Niemand um den Weg ist; wenn ich es dann in den Händen hätte, könnt’ ich es in meiner Kammer zurecht richten und in ein paar Tagen könntest Du damit vor den Meister hintreten.“

Der Vorschlag leuchtete dem Burschen ein. „Ich bring’ das Gewand,“ sagte er rasch und verschwand durch die Thür. Bald hörte er seine Tritte auf der Treppe knarren, die in die Schlafkammer führte. Judika’s Kraft war erschöpft; sie glitt auf die Bank zurück und lauschte fast athemlos, ob er nicht etwa

Die letzte Kuh.
Ein Bild aus der Rhön von H. Heubner.

sich anders besinne und ob die Tritte wiederkämen. … Sie vermochte nur die Hände über der Brust zu falten, ein Zeichen der Angst und zugleich eines stummen, brünstigen Gebetes.

Nach einigen Augenblicken kam Fazi wieder, einen unscheinbaren Rock über den Arm, den er Judika reichte und den sie auseinander faltete. Es war eine grautuchene Joppe, wie sie in der Gegend gebräuchlich waren, an der Vorderseite über und über mit Kalkspritzern bedeckt.

„Die schaut freilich bös aus,“ sagte Judika mit stockendem Athem. „Ist ja über und über voll Kalk.“

„Ja,“ erwiderte Fazi lachend. „Der Kalk ist beim Maurer was beim Kaminkehrer der Ruß. Der Lehrbub’ hat aus Muthwillen mit der Löschschaufel in die Grube hineingeschlagen und hat mich über und über angespritzt. Ich hab’ ihn aber auch dafür gebeutelt, daß mir fast sein Ohr in der Hand geblieben ist.“

„Es ist schrecklich, wie unnütz solche Buben sind!“ erwiderte Judika und zwang sich, auf Fazi’s Ton einzugehen. „Aber man kann doch noch helfen. Freilich hat sich der Kalk schon hineingefressen, und Flecken werden wohl immer bleiben. Ich will’s gleich versuchen.“

Sie stand auf und holte aus einem Wandkästchen eines jener Fläschchen, wie wandernde Kaufleute sie mit Seife und Fleckkugeln in den Dörfern zu verkaufen pflegen.

„Ich denke, es soll gehen,“ sagte sie, nachdem sie den Kalk weggerieben und einige Tropfen darauf geschüttet hatte. Dabei wandte sie, um das Zittern ihrer Hände zu verbergen, den Rock hin und her; sie hatte bemerkt, daß die Joppe mit rauhen Beinknöpfen besetzt war, worauf Hirschköpfe abgebildet waren.

Vorn an der einen Brustseite fehlte ein solcher Knopf.

„Kannst mir ja den Rock da lassen,“ fuhr Judika mit möglichster Unbefangenheit fort. „Kann ihn dann auf meine Stube nehmen, oder noch besser: ich will gleich heute noch richten, was ich kann. Ich hab’ doch keinen Schlaf in den Augen. Geh’ Du

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 511. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_511.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)