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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Aufenthalt nicht; es ist gerade, als wenn sie sich verstecken wollte, damit ich ihr ja nicht mehr unter’s Gesicht komme … Aber richtig, da fällt mir ein: Der Vorsteher hat mir ja gesagt, wenn ich verkaufen und fortgehn würde, dürfe er mir den Aufenthalt sagen. Gleich morgen muß er mir Aufschluß geben.“

Unweit des Kirchhofs schlug ein Hund an; ein zweiter antwortete; bald regte sich auch ein dritter. Auf der Straße wurden Stimmen und näher kommende Schritte laut.

Hastig zog Wildl das Mädchen an sich und zu einer Stelle hin, wo die Mauer, etwas niedriger und theilweise eingefallen, der Erneuerung harrte, die ihr mit dem Frühling zu Theil werden sollte. Rasch hatte er sie über die Lücke hinaus gehoben; rasch schwang er sich selber nach und eilte zwischen den dunklen Zäunen der engen Dorfgasse einer Blöße zu, wo dieselbe zu einem nahen Tannenwäldchen führte. Sie hatten eben nur noch Zeit, ein Zusammentreffen für den andern Tag zu verabreden; dann eilte Engerl dem Gehölze zu, hinter welchem die einzelne Hütte lag, in der sie verborgene Gastfreundschaft gefunden hatte. Wildl kehrte um, dem nahenden Rufen und Gebell entgegen.

Es war der Nachtwächter des Dorfes mit Laterne und Hund – der Hund war des Gerichtsdieners Tiras, den derselbe im Aerger über die unziemliche Vertraulichkeit mit einem Malefikanten, wie dem Wildl, verkauft hatte und der jetzt den Wächter auf seinen nächtlichen Wanderungen zu bewachen hatte.

„Halt – wer da?“ rief der Mann, indem er die Laterne empor hob, daß ihr voller Schein Wildl’s Angesicht beleuchtete.

„Gut Freund!“ war dessen Antwort. „Kennst Du die Leute vom Dorf nicht, daß Du sie anschreist und anhältst wie Spitzbuben?“

„Was – Ihr seid’s? Der Himmelmooser?“ rief der staunende Wächter und fällte die rostige Hellebarde gegen ihn. „Was thut denn Ihr noch so spät auf der Gasse und obendrein in einem solchen Winkel? Ihr solltet schon lang daheim sein. Ihr wißt wohl, daß Ihr unter Aufsicht steht. – Also marsch! Ihr seid mein Arrestant – marsch mit mir zum Vorstand!“

„Geh’ mir aus dem Wege, alter Fax, und fuchtle mir nicht mit dem Ding da vor der Nase herum!“ rief Wildl. „Einen schönen Gruß an Deinen Vorsteher und sage ihm, morgen werd’ ich ihm schon meine Aufwartung machen – aber das ist das letzte Mal.“

Damit hatte er die Hellebarde ergriffen und den sich daran klammernden Wächter in den Schnee geschleudert, daß ihm die zerbrechende Laterne erlosch und er in seinem dicken Mantel mühsam sich empor zu arbeiten strebte. „Huß, hussa!“ rief er unter einer Fluth von Schimpfreden. „Huß, Tiras, fass’ an!“

Aber der Hund hatte über dem Wiedersehn des alten Bekannten alle Abrichtung vergessen und sprang, statt ihn zu packen, heulend und wedelnd um den Flüchtling herum.

„Engerl hat doch Recht,“ rief dieser vor sich hin, „ich muß fort – es thut nicht gut daheim.“




5.

Einige Stunden vom Dorf und vom Himmelmooser Hof entfernt, that sich zur Seite der Straße in die angrenzenden Berge hinein ein Bruch auf, dessen röthlich gesprenkeltes Gestein nicht nur in der Nachbarschaft beliebt, sondern weithin in’s Land zu Bauten wie auch zu Kunstwerken gesucht war. Das Gestein trat in einer tiefen Schlucht zu Tage, welche allmählich durch Ausbeutung erweitert worden war und aus welcher eine klare Quelle in starkem Guß und Fall hervorrauschte, die Säge und die Mühle treibend, in welcher die Blöcke zu Tafeln zersägt, die Arbeiten gefertigt und die Abfälle zu Spielkugeln für Kinder, sogenannte Schusser, verarbeitet wurden. Es war in einer Zeit, wo solche Einrichtungen noch zu den Seltenheiten gehörten und wo die Wasserkräfte der Berge beinahe unbenützt versprudelten und keinen andern Zweck zu haben schienen, als durch ihr Stürzen und Rauschen die Anmuth der Landschaft zu erhöhen.

Im Eingange des kleinen Thaleinschnittes, vor der Mühle, Säge und der Werkhütte der Steinmetze, lag ein ansehnliches Gebäude, das Wohnhaus des Bruchbesitzers, von angenehmen und etwas städtischen Formen, wie sie der Landmann mit dem Namen „herrisch“ zu bezeichnen pflegt. Obwohl Gegend und Witterung nicht geeignet waren, von der Zucht der Blumen oder Gartengewächse besondere Ausbeute hoffen zu lassen, war das Gebäude doch von einem Stacketzaun und einer kleinen Gartenanlage wie von einem Rahmen eingefangen, in welchem während der kurzen Sommerzeit Rittersporn und Gelbveiel, Schwertl und Sonnenblume, hie und da auch einige Gemüsepflanzen den Raum sich streitig machten. An der Wand rankte sich ein Rebstock heran, welcher jedes Jahr regelmäßig seine Trauben ansetzte, die aber ebenso regelmäßig in keinem Jahr zur Reife kamen. Auch der tiefe Winter konnte dem Hause und seiner Umgebung nicht völlig das Gepräge der Wohnlichkeit und rüstigen Thätigkeit nehmen; es war, als ob dasselbe aus den klaren Fenstern wie aus verständigen Augen heraussähe, und wer auf der Straße des Weges kam, mußte sich unwiderstehlich angezogen fühlen und konnte den Wunsch nicht unterdrücken, statt auf der frostknarrenden Schneebahn wandeln zu müssen, in der hellbeleuchteten Stube zu sitzen, in welcher gewiß auch gastliche Wärme zu Hause war.

So war es auch in der That. Der große grüne Kachelofen war tief in die Ecke der geräumigen Stube hineingestellt, die er vollständig beherrschte, als wenn er dadurch zeigen wollte, daß er in dem kühlen Bergwinkel doppelt an seiner Stelle wäre. Derselbe war an zwei Seiten von Bänken umgeben, welche auf der einen an den großen Tisch stießen, der zu den Mahlzeiten der Hausgenossen bestimmt war; auf der entgegengesetzten Seite befand sich die sogenannte Hölle, eine zwischen Ofen und Zimmerwand angebrachte, erhöhte Bank, für diejenigen bestimmt, welche etwa an einem Gebrest litten oder besonders ausgefroren von der Arbeit heimkamen. Unweit davon führte eine Thür in die Küche, während gegenüber eine andere in den Hausgang mündete.

Der Tisch war schon für das Abendessen vorbereitet, aber noch waren die Plätze leer; nur Frau Judika saß auf der Bank, emsig wieder mit ihrem Strumpf beschäftigt, der jeden Augenblick, wo sie die Hände frei hatte, ausfüllen mußte. Es war auch eine Arbeit, zu welcher sie nicht vieles Licht bedurfte, und die über dem Tische hängende Glaskugel, in welcher ein Oellämpchen brannte, verbreitete eben nur so viel Licht, als nöthig war, die Gegenstände in der Stube zu unterscheiden.

Die Alte bedurfte es auch nicht. Die Strickerei mit sammt den Händen war ihr in den Schooß gesunken; sie regte sich nicht und saß, Rücken und Kopf an den Ofen gelegt, mit geschlossenen Augen da, gleich einer Schlafenden oder gleich Jemand, der eine schwere Krankheit durchgemacht und sich nun von seiner Mattigkeit zu erholen beginnt. Die Frau hatte wirklich das Aussehen einer Kranken; war auch ihr Antlitz schon lange eine Musterkarte von Falten gewesen, die blühende Gesichtsfarbe hatte zu dem schneeweißen Haar sehr gut gelassen und ihr ein Ansehen gegeben, welchem die Rührigkeit ihrer Geberden nicht widersprach; jetzt war sie bleich; die Fältchen um die Augen waren zahlreicher geworden, und diese selbst tiefer eingesunken. Der Sturm, der über’s Himmelmoos dahin gebraust war, hatte sie offenbar nicht minder hart getroffen, als die Uebrigen; war sie doch sogar, wie es bei einem Wirbelwind zu geschehen pflegt, weit von demselben hinweggeschleudert worden. Dennoch war sie in Wirklichkeit weder eingeschlummert noch krank. Was auf ihrem Antlitze hing, wie ein darüber gebreitetes Netz, war der Ausdruck gedankenvollen Grübelns, das dahinter hockte, fortwährend sich regend und arbeitend, wie eine rastlose Spinne; es war das Gepräge eines Unternehmens, das ihre ganze geistige und körperliche Thätigkeit in Anspruch nahm und dadurch die Spannkraft Beider aufrecht erhielt.

Hastig richtete sie sich auf, als die Thür sich öffnete und der Herr des Hauses eintrat, ein Mann in den besten Jahren, dessen Gestalt man wohl ansah, daß er geübt und fähig sei, Hammer und Fäustel zu schwingen. Die große, weiße Staubschürze, welche bis über die Brust reichte, zeigte, daß er aus der Werkstätte kam und das Geschäft ihm keine Nebensache und die Arbeit seine Lust war.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 486. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_486.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)