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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


nicht unschöner Rundbau, stand bei dem Landvolke in hohen Ehren, und die wenigen Tage, an denen sie dem Gottesdienste und damit dem Besuche sich öffnete, waren eben so viele Festtage, zu welchen Alt und Jung von Thälern und Bergen herbeigeströmt kam. Dann erhob sich an der sonst einsamen und schweigenden Capelle, deren Inneres sonst nur durch ein Gitter in der Thür zu sehen war, ein fröhlich bewegtes, laut schallendes Leben; das Portal war mit grünem Laubwerke geziert; zu beiden Seiten wurden frisch aus dem Walde geholte Fichtenbäume aufgestellt, und auf dem grünen Rasenflecke bauten sich rings um das Heiligthum allerlei Buden und Ständchen auf, um mit Rosenkränzen, bunten Kerzen und frommen Bildchen Alles zu liefern was den gläubigen Gemüthern zur Erhöhung der Andacht nöthig scheinen mochte.

Tief in Gedanken und des Weges kaum achtend, war Wildel aus dem Walde getreten; gegenüber, nur durch die vorüberführende Landstraße getrennt, sah die Kuppel der Capelle aus den Bäumen hervor, diese selbst aber liefen in eine schöne Spitze aus, die sich, wie eine Landzunge in einen See, in den Rasenabhang vorschob und dadurch nach innen eine Art grüner Bucht bildete, in welcher, vor den Winden geschützt, Unterholz und Gebüsch die hochragenden Stämme umkleidete. Da streckte die Hasel ihre breitlaubigen Gerten mit den zierlichen Nußsternchen empor; der Weinschörl prunkte mit den hochrothen Trauben, deren Gluth mit jener der reifenden Hagebutten wetteiferte, und an den Stämmen emporrankend hatte die Zaunrübe ihre zarten gefiederten Dolden gleich einem Baldachin aufgehangen.

Es war ein liebliches Bild, das sich dem Auge des frühen Wanderers darbot und ihn still stehen machte; es war die Wiederholung dessen, was er wie einen Schatz immer in und mit sich getragen; stand er doch an der nämlichen Stelle, wo er beim Abschiede von der Heimath noch einmal auf dieselbe zurückgeschaut hatte, wo es ihm zum ersten Male klar geworden, wie viel mehr, als er bisher selber geahnt, er in ihr zurücklasse, und wo an seine bis dahin freie Hand sich der erste Ring einer künftigen Kette angelegt.

Lange stand er so und schien sich zu besinnen, ob er wache oder träume.

Er hatte wohl auch Grund dazu, denn nicht nur Rasen und Bäume waren dieselben wie damals – auf den Baumwurzeln unter dem Hasel- und Berberitzen-Gesträuche saß auch wie damals eine weibliche Gestalt, den Kopf mit dem hohen, grünen, goldumschnürten Hut auf die eine Hand und den Ellenbogen auf den Baumstumpf nebenan gestützt, während die andere Hand lässig in’s Gras herunter hing.

Der Bursche hatte den Hut abgenommen und fuhr sich über die Stirn, wie um eine Blendung wegzuscheuchen, dann theilte er rasch die Gebüsche, die ihn noch von dem Mädchen trennten, und stand lautlos vor der überrascht Aufspringenden, welche ihn ebenfalls anstarrte, als habe sie einen Geist erblickt, die Büsche aber rauschten im Zusammenschlagen so laut, als freuten auch sie sich des Wiedersehens.

„Du bist es, Engerl?“ sagte Wildel nach einer Weile. „Bist es denn wirklich? Gieb doch einen Laut von Dir, daß ich’s glauben kann! Oder hat’s Dir ganz und gar die Red’ verschlagen?“

„Ich bin’s schon,“ entgegnete sie, „dabei ist nichts zu verwundern, aber wie Du daher kommst, das ist schon ein besonderer Zufall.“

„Und wenn’s kein Zufall wär’? Schau, wir sind alleweil aufrichtig gewesen mit einander – ich will’s jetzt auch sein und will’s eingestehen: ich hab’s gewußt, daß Du daher kommen wirst, ich hab’s auf der Brünnl’-Alm erfahren und bin schnurgerad’ auf das Platz’l zugegangen … jetzt sei Du auch aufrichtig und sag’ – ist es wirklich ein Zufall, daß ich Dich gerad’ an dem Platz’l find’?“

Das Mädchen senkte den Blick zu Boden und spielte erröthend mit der an ihrem Mieder hängenden Münze; es war ein altes viereckiges Schaustück, ein sogenannter Ruperti-Thaler, und der einzige Schmuck, der an dem aus geringem Silber genestelten Geschnür hing. Sie fand nicht gleich eine Erwiderung, denn es widerstrebte ihr, zu verneinen, was sie vor sich selbst nicht leugnen konnte, und doch brachte sie noch minder ein offenes Geständniß über die Lippen. Auch er schwieg einen Augenblick und war im Beschauen des Mädchens versunken, das wohl auch weniger befangene Blicke zu fesseln vermocht hätte. Obwohl groß und schlank, war sie doch so fein gebaut und gegliedert, daß sie im Ganzen eher den Eindruck des Zierlichen, als des Kräftigen machte. Die Züge des von ganz schwarzem Haar umrahmten Gesichts waren wohlgeformt, ohne eben schön zu sein, aber aus den blauen Augen schimmerte so treuherzige Güte, um die frischen Lippen spielte so harmlose Heiterkeit, daß die Anmuth reichlich ersetzte, was vielleicht an Regelmäßigkeit fehlte.

„Was schaust mich denn so an?“ sagte sie in steigender Befangenheit.

„Weil ich mich nicht satt sehen kann an Dir,“ rief er rasch entgegen. „Weil ich such’ und such’ und gar nit begreifen kann, wo Du die Stärk’ sitzen hast. Du bist so geschlacht und geschlingig, wie ein Hirschel, und ein krankes Leut drei Stunden weit auf dem Rücken über den Berg herunter tragen – das thut Dir so leicht Niemand nach.“

„So hat die alte Plauschmirl das Schwatzen doch nit gerathen können,“ sagte das Mädchen verschämt, „das hätt’ ein jedes Anderes auch gethan – das ist des Redens nit werth.“

„Das hätt’ nit jedes Andere gethan. Dazu muß Eines Dein Herz und Dein Gemüth haben, Engerl. Die Alte hat Recht, Du hast Deinen Namen wahrhaftig nit umsonst.“

„Red nit so sündhaft daher!“ unterbrach sie ihn unwillig, „sag’ lieber, wann Du wieder heimgekommen bist – ich hab’ noch gar nichts erfahren davon.“

„Gestern Abend,“ war Wildel’s beklommene Antwort.

„Gestern Abend?“ fragte sie staunend und mit einem Blicke des Vorwurfs. „Und da bist Du schon auf der Brünnl’-Alm gewesen? Bist nit einmal in der ersten Nacht daheim geblieben?“

Nun war es an dem Burschen, in Verlegenheit zu gerathen und die Augen niederzuschlagen; es war ihm doch nicht möglich, sogleich beim ersten Begegnen den wahren Grund seiner Nachtwanderung zu erzählen, und eine unwahre Ausflucht wollte ihm nicht von den Lippen. „Du weißt ja,“ sagte er endlich in sichtbarer Verlegenheit, „warum und wie oft ich den Weg gegangen bin.“

„Das weiß ich freilich,“ erwiderte sie, und der Vorwurf in ihren Zügen wurde zur Betrübniß, „aber ich hab’ gemeint, Du hättest den Wildschützen in der Stadt gelassen.“

„Das hab’ ich auch gethan,“ rief er, froh einen Anhalt zur Ableitung des Gesprächs gefunden zu haben, „aber etwas Anderes hab’ ich richtig wieder mitgebracht aus der Stadt – weißt wohl, dasselbe silberne Ringel, das Du mir aufzuheben gegeben hast.“

Sie erröthete. Das düstere Licht der Augen schwand, und lächelnd ließ sie es geschehen, daß er ihr zuerst die Hand mit dem Ringe zeigte, dann denselben abzog und ihre Hand ergriff, um ihn ihr an den Finger zu stecken. „So hast das Ringl wirklich so gut aufgehoben, wie Du versprochen hast?“ fragte sie mit leisem Beben in der Stimme. „Ist es niemals von der Hand weg oder gar an eine andre Hand gekommen?“

„So gewiß als meine Hand nit von meinem Arm ’kommen ist,“ rief er freudig. „Das Ringl war mein einzigs Vergnügen, und ich hab’ mir immer ’denkt, wenn ich einmal heimkäm’, nachher wollt’ ich Dir’s erzählen und Dich fragen, ob ich Dir’s wirklich wieder zurückgeben muß.“

„Freilich wohl,“ sagte sie leise, ohne ihm die Hand zu entziehn, „es ist schier das einzige Andenken an meine Mutter selig, aber es muß nit gleich für den Augenblick sein. Wenn Du mir’s noch weiter aufheben willst …“

„Aufheben?“ rief er entzückt; „ich möcht’ es ja am liebsten ganz behalten, den Ring und die Hand und den Arm und Alles, was dran hängt, aber ich hab’ das Herz nimmer, daß ich Dich drum bitt’.“

Sie schlug die Augen voll und fragend gegen ihn auf, aber ihr Lächeln zeigte, daß sie die Frage sich gleich selbst beantwortete und einen Scherz erwartete. „Du hättest das Herz nit, Du wilder Ding?“ fragte sie; „wie wär’ denn das gemeint?“

„Ich seh’ wohl, es geht nit anders; ich muß Dir Alles sagen,“ rief er und warf Hut und Joppe mit einer Geberde des Unwillens in’s Gras. „Einmal mußt Du’s doch erfahren. Setz’ Dich wieder nieder auf Deinen Baum! Ich leg’ mich auf den Boden und erzähl’ Dir die traurige Geschicht’.“

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