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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


frohen Ergebnisses der vergangenen Nacht. Er behauptete unter Mittag schon, ein unbehagliches Gefühl zu verspüren, und entschuldigte damit ziemlich verdrießlich seinen Mangel an Appetit beim Mittagessen. Sein Kopf sei dumpf und seine Glieder schwer. Er machte Reiseprojecte, die er ausführen wollte, sobald Toni so weit hergestellt sei, um überhaupt frische Luft im Freien zu vertragen und in einen Wagen gehoben werden zu können.

Er wollte hinaus aus dem elenden „Choleraneste.“

Als der Fabrikleiter Bandmüller in den Nachmittagsstunden das Arbeitszimmer seines Principals betrat, hatte der Alte unter seinem Schlafrocke ein Kissen über den Magen gebunden, und der Ankömmling vermochte über diesen unerwarteten Zuwachs an Körperfülle ein heimliches Lächeln nicht zu unterdrücken. Doch verschwand dasselbe schnell, denn der Commerzienrath Seyboldt konnte nichts vertragen, was einem Spotte über ihn selber ähnlich sah. Auf dem runden Tische vor dem Sopha, mit den schöngeschnitzten Drachenfüßen, stand ein Theegeschirr, und der scharfe Duft der römischen Camille würzte die Luft des Gemaches.

„Was wollen Sie, Bandmüller?“ fragte es vom Sopha her, in welchem der Commerzienrath sich aus seiner liegenden Stellung emporrichtete.

Der etwas gereizte Ton, mit welchem er empfangen wurde, machte den Fabrikleiter ein wenig verdutzt. Aber er konnte sich auf die Wirkung dessen, was er zu sagen hatte, verlassen.

„Eine wichtige Entdeckung, verehrter Herr Commerzienrath; erlauben Sie, daß ich Platz nehme! Eine Entdeckung politischer Natur. Wir sind durch die Gnade des Höchsten in jüngster Zeit über einen Abgrund gefahren, der Alles verschlingen konnte, was an Gutgesinnten in dieser Stadt lebt: mit einem Worte, wir sind wie durch ein Wunder einer in allen ihren Theilen vorbereiteten blutigen Revolution entgangen.“

Der Commerzienrath horchte auf. „Also war das Gerede davon doch keine bloße Mythe? Und Sie sind im Stande, bestimmte Angaben zu machen?“

„Bestimmte und zuverlässige zugleich. Nur muß ich bitten, meine Quelle verschweigen zu dürfen, und unbedingte Discretion in Anspruch nehmen. Bei dieser Gelegenheit ist mir endlich auch ein klares Licht über die Rolle aufgegangen, welche der Doctor Urban, Ihr Hausarzt, in dem unseligen Treiben der thron- und kirchenfeindlichen Partei unsrer Stadt spielt, und ich muß es leider aussprechen: Sie nähren eine Schlange am Busen.“

„Was sagen Sie? Das müssen Sie beweisen, Herr!“ fuhr der Commerzienrath aufgeregt in den salbungsvollen Ton des Fabrikleiters hinein.

„Entschuldigung!“ sagte dieser mit gut gespielter Betrübniß; „in diesem Falle bin ich gezwungen zu schweigen –“

„Nein, nein, reden Sie! Die Sache interessirt mich mehr, als Sie wissen und verstehen können.“

Und so begann denn ein Vortrag, welcher dem Zuhörer das Blut in den Adern erstarren machte. Mit tückischer Deutlichkeit wurde der kunstvolle Plan Urban's nachgezeichnet, soweit er Bandmüller bekannt geworden, die muthmaßlichen Folgen entwickelt und mit den schreiendsten Farben gemalt, und mitten in diesem Netze, in dem Punkte, wo die Fäden zusammenliefen, saß die blut- und beutegierige Kreuzspinne, welche das Netz gewoben: Doctor Urban, der Heuchler mit dem Vertrauen heischenden Aeußern und dem lauernden, Verderben brütenden Innern. Das Ganze war ein Verrath und eine Denunciation zugleich.

Der Commerzienrath hörte anfangs wie betäubt zu, kaum daß ein halb erstickter Ausruf des Entsetzens den Eindruck andeutete, den er von dem Gehörten empfing: – dürres Reisig für das trübe Feuer der Rede Bandmüller's, das diese jedes Mal heller auflodern machte. Später gewann eine zornige Erbitterung die Oberhand; die unruhigen Lippen und Hände, die grimmigen Augen, die immer lebhafter werdenden Unterbrechungen sprachen deutlich genug.

Bandmüller war zu Ende.

Der Commerzienrath war aufgestanden und postirte sich dicht vor den Fabrikleiter hin, welchem er die Hand auf die Schulter legte.

„Können Sie die Wahrheit dessen, was Sie mir da erzählt haben, beschwören?“

„Der Hauptsache nach, ja.“

„Ah! und ich bin im Begriffe, meiner Tochter diesen Mann zum Gatten zu geben. Was würden Sie in meiner Lage thun?“

Bandmüller zuckte die Achseln.

Der Alte that ein paar Schritte in's Zimmer und kehrte dann rasch um; der Fabrikleiter gewahrte mit Befremden, daß der zornige Ausdruck im Gesichte des Fabrikanten fast erloschen war.

„Geschehen ist geschehen,“ murmelte derselbe unentschlossen; „ein offener Uebertritt zur Union, und ich könnte ihm die Amnestie garantiren. Er muß sich dazu verstehen. – Sie müssen wissen,“ fuhr er gegen Bandmüller heraus, der ihn scharf beobachtete, „daß meine kranke Tochter diesem Manne das Leben schuldet, und daß ich den geschicktesten Arzt im Orte nicht missen mag.“

„Es ist möglich, daß er das Leben Ihres Fräulein Tochter gerettet hat, möglich, sage ich, aber nicht erwiesen. Die Natur pflegt sich meist selber zu helfen, und die Aerzte haben es hinterher bequem, zu sagen, daß Alles ihren Recepten zu danken sei. Aber wenn Sie freilich die Ueberzeugung haben, Herr Commerzienrath –“

„Gewiß; ich kann kaum anders.“

Der Fabrikleiter schlug mit heftiger Bewegung die Beine übereinander, und ein giftiger Blick fiel auf den Fabrikanten, dessen Augen auf dem Teppiche hafteten. Sein Plan war nahe daran zu scheitern. Vergebens preßte er sein Gehirn um einen rettenden Einfall.

„Ich würde nicht zu hoffen wagen, daß ein so hart gesottener Revolutionär zu wirklicher innerer Umkehr kommt,“ warf er hastig hin.

„O, man hat Beispiele, Saulusbekehrungen, lieber Bandmüller. – Ich werde ihm schreiben –“

Der Fabrikleiter lachte plötzlich kurz auf.

„Was haben Sie?“ fragte der Alte emporblickend.

„Einen Einfall. Ich würde mir, wenn ich in Ihren Verhältnissen wäre, unter keinen Umständen einen Arzt zum Schwiegersohne wählen.“

„Warum nicht?“

„Es steht zwar geschrieben: Lasset Euch nicht gelüsten, aber es ist keine kleine Versuchung, immer ein reiches Erbe vor Augen zu haben, das nur eine Kleinigkeit von Lebensfaden hindert, uns in den Schooß zu fallen. Eine Krankheit – man verfehlt zufällig das rechte Mittel, das einzige, welches helfen würde – das passirt ja ohnehin in der Praxis oft genug –“

Bandmüller hatte seinen letzten Trumpf ausgespielt und das lange Gesicht des Commerzienrathes befriedigte ihn völlig.

„Teu…, daran habe ich niemals gedacht.“

Und das ohnehin heute auffallend fahle Gesicht war aschgrau geworden, und der Commerzienrath Seyboldt ging an den Schreibtisch und kritzelte zwei Briefe, erst einen kürzern, den er nach dem Durchlesen wieder zerriß, und dann mit vielem Nachdenken einen zweiten. Die Cholera, die Cholera! War es nicht, als ob ein nebelhaftes, grinsendes Gespenst draußen vor den Scheiben hing und mit langen, dürren Krallenfingern auf ihn zeigte? Wie, wenn er mit dem Absagebriefe wartete, bis die Stadt von dieser Geißel befreit war? Nein, und wieder nein! Gesetzt, daß die gräßlichen Krallen sich in seinen Nacken schlugen und ihn niederwarfen: war das nicht die beste Gelegenheit für den künftigen Schwiegersohn, sich seiner sofort zu entledigen? Und doch war es auf der andern Seite der nämliche Urban, der ihm versichert hatte, allein die Wahrscheinlichkeit einer Rettung bieten zu können.

Ein seltsam widerspruchvolles Geschöpf von Brief entstand unter seinen zitternden Händen. Zweierlei nur ging mit einiger Klarheit aus demselben hervor: die Abweisung einer Verbindung Urban’s mit Toni, und die Absicht, einen vollständigen Bruch mit dem Arzte zu verhüten.

„Hier,“ sagte der Commerzienrath, und reichte Bandmüller das Schreiben; „schicken Sie das durch den Kutscher an die angegebene Adresse! Vorläufig will ich glauben, daß ich Ursache habe, Ihnen dankbar zu sein,“ fügte er mit eigenthümlich gepreßter Stimme hinzu. „Sagen Sie im Vorbeigehen, daß eines der Mädchen sich im Vorzimmer aufhalten soll! Ich fühle mich unwohl; sie wird genau auf meine Schelle Acht geben und verhindern, daß Jemand bis zu meinem Zimmer vordringt.“ Der Fabrikleiter war entlassen.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 312. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_312.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)