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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


über Brücke und Fluß nach den jenseitigen mit Weingelock überkleideten Bergen schweifen. Schon verdunkelte sich ihr goldig durchflimmertes Roth, und endlich schob sich das Gewölk, welches um die Höhen zog, gleich Coulissen vor den Niedergang der Sonne.

Die Luft wurde schwül. Eine müde, schwere Stimmung überkam den Wanderer und ließ ihn umkehren, als er von fern ein paar Cameraden des Weges kommen sah. Einsamkeit und Schweigen waren ihm heute tiefstes Bedürfniß. Rasch, mit gesenkten Auge verschwand er zwischen den Bäumen der Anlage und ließ sich ermattet, als hätte er weite, weite Strecken zurückgelegt, auf einer dicht umbuschten, abseits stehenden Bank nieder. Kaum hätte er selbst zu sagen gewußt, wohin all seine Lebensfreudigkeit entwichen war, woher ihm soeben ein Gefühl aufgestiegen, als sei mit dem Verschwinden dieser glühenden Sonne die ganze Welt abgestorben. Und doch – er wußte dies, wußte es wohl. In wenigen Tagen hieß es Scheiden – von Allem, was ihn hielt und band, und als ihn so der Gedanke an das Ende beschlich, mußte er des Anfangs gedenken, jener ersten Stunde, die ihn unter die gleichen Bäume geführt.

Grübelnd ließ er heute, wie schon so manches Mal, jede der Stunden an sich vorüberziehen, von denen er so viel erhofft; es mag zuweilen schwierig sein, sicher zu wissen, ob man geliebt wird – daß man es nicht wird, erkennt sich nur allzu leicht. Paula war gütig gegen ihn gewesen, all diese Zeit, aber wie frei stand sie ihm gegenüber! So oft sein aufglühendes Gefühl sich Rechte schaffen wollte, bedurfte es nur eines Blickes ihrer klaren und doch so unergründlichen Augen, und all seinen heißen Wünschen zum Trotze schloß ihm ein Gott die Lippen zu. Jetzt, wenn er schied, begleitete ihn nicht mehr der holde Gedanke: auf Wiedersehen! Was er Jahre hindurch als verschwiegene Lebenshoffnung in sich getragen, hatte keine Zukunft mehr. Und doch wußte er, Nichts würde dieses Bild in ihm je auslöschen, noch ersetzen.

Ein wundersam weher und doch reizvoller Traumzustand überkam ihn. Vergangenheit und Zukunft schwebten dämmerig an seiner Seele vorüber; die Gegenwart empfand er nur als Fähigkeit zum Leide, und das umspann ihn mit all dem wilden Zauber, den es am stärksten um glückgewohnte Jugend webt. Längst waren die letzten, vereinzelten Vogelstimmen schweigsam geworden; der schwache, noch draußen irrende Dämmerschein erstarb inmitten der Schatten, welche Büsche und Bäume umschleierten. Durch die gelichteten Bäume fiel mitunter ein heller elektrischer Strahl, um doppeltes Düster hinter sich zu lassen.

Hermann mochte sich nicht zum Gehen enschließen. Im Laubversteck dieser Büsche, welche ihn wie ein Eiland von der Welt abtrennten, im wachsenden Dunkel, wo jede Farbe starb und nur das leise Regen der Blätter um ihn, über ihm die Stille unterbrach, ward ihm leichter zu Muthe. Schon geraume Zeit mochte er so mit halbgeschlossenen Augen geträumt haben, als er in seiner unmittelbaren Nähe Schritte vernahm. Ueber das ihn bergende Buschwerk hinweg unterschied er die unbestimmten Umrisse eines Paares, das den Pfad entlang gekommen sein mußte, und sich nun, wenige Schritte von ihm, einer Bank zuwandte, auf welche die kleinere der Gestalten sich niederließ. Ehe sie Hermann's Augen entschwand, erkannte er, daß es ein Weib war. Ihr Gefährte blieb vor ihr stehen und stammelte in gebrochenen, kaum verständlichen Lauten:

„Wenn ich nicht wahnsinnig werden soll, muß ich Dir einmal, einmal sagen, daß ich an Dich meine Seele verloren habe.“

Hermann, zu dessen Ohr jede Silbe drang, fühlte sich von tödtlicher Verlegenheit ergriffen. Aus seiner Träumerei jäh emporgeschreckt, hatte er Niemand näher kommen hören und wußte nun nicht, wie er es anfangen sollte, der quälenden Lage eines unfreiwilligen Lauschers zu entkommen. Um den Platz zu verlassen, dessen Versteck er geflissentlich gewählt, mußte er an den Beiden vorüber, so dicht vorüber, daß es unmöglich war, unbemerkt zu bleiben. Nach dem stürmischen Geständnisse, das so unvermittelt hervorgebrochen, dessen Ausdrucksweise verrieth, daß die Ahnungslosen gleichem Lebenskreise angehörten, wie er, war solches Auftauchen eines Zeugen von der äußersten Peinlichkeit, besonders für die Dame. Die bloße Vorstellung des Entsetzens, welches ein junges Mädchen ohne Frage erfassen müßte, wenn sie die Nähe eines Dritten auch nur ahnte, trieb ihm eine heiße Gluth bis in die Stirn. Trotz seines Widerwillens, in einer so beschämenden Lage ausharren zu sollen, rang er sich doch den Entschluß ab, zu bleiben, wo er war, sich nicht zu regen und im Bewußtsein eigener, höchster Discretion den Trost zu suchen, dessen sein Zartgefühl bedurfte.

Er vergrub den Kopf in beide Hände, um so wenig wie möglich zu vernehmen. Wirklich drang während der nächsten Augenblicke nur gedämpftes Murmeln und leises, kurzes Aufschluchzen an sein Ohr, bis er plötzlich zusammenzuckte und aus seiner gebeugten Stellung jählings auffuhr. Die Stimme dieses Mannes, welche – unvorsichtig genug! – immer lauter und deutlicher erklang – diese Stimme kannte er.

Aber nein, nein – es war ein Trug seiner Sinne, eine bloße Aehnlichkeit des Klanges. Das volltönende Organ konnte nicht Oberst Kettler's Stimme sein. Sein Ohr mußte ihn täuschen, auch war ja der Oberst nicht hier – dennoch, mit jeder Secunde wich der gewaltsam festgehaltene Zweifel mehr der Gewißheit.

Und jetzt drang auch, leise wie ein Hauch, Antwort herüber: „Sie sind – Sie sind nicht frei – o lassen Sie mich –“

Die halberstickten, kaum unterscheidbaren Laute trafen Hermann wie ein scharfer Stich; er wußte nicht warum. Zuweilen ahnt aber das Herz seinen Tod.

„Ich weiß – ja, ich weiß,“ stammelte der Oberst. „Erinnere mich aber nicht daran – nicht in diesem Augenblicke! Ich lasse Dich – heute – immer – Du sollst mich nicht wiedersehen – nur gewähre mir Eines! Seit mich Deine süßen Lippen berührten, verzehre ich mich in Sehnsucht nach einem freiwilligen Kusse von Dir. Vergiß, was gewesen ist und was sein wird! Gewähre mir die eine große Gabe, vielleicht daß ich dann wieder Mann werde, wieder Herrschaft gewinne über die untergegangene Seele. O Kind, wachst auch Du zuweilen dem Tage entgegen? Weißt auch Du, was es heißt, von einem nie rastenden Wunsche verfolgt, schlummerlos dazuliegen, sich Möglichkeiten zu ersinnen, die vor dem Lichte des Tages zerstieben wie hohnlachende Gespenster und mit verstärkter Gewalt wiederkehren, sobald Nacht und Dunkel sie von Neuem wieder frei läßt? Oft, wie oft, wenn ich vor Dir stehe, überfällt mich ein Zittern; dann regt sich der Wunsch wie ein Dämon, und siehst Du mich dann an mit den liebreich fragenden Augen, und doch meiner innersten Qual so unbewußt, so ist mir, als müßte ich vor Dir umsinken, wie eine Garbe, als müßte ich diesen versengenden Durst zugleich mit meinem Leben verlöschen, und als dürfte mich doch kein Tod berühren, ehe Deine Lippen mich berührt haben. Erbarme Dich meiner!“

Kein Laut als das schwache Rascheln einzelner niedertaumelnder Blätter. Schwül und schwer hing das Dunkel über den Bäumen; keine Cicade unterbrach mit ihrem Liede die Todtenstille.

Dem Lauscher – er war kaum ein unfreiwilliger Lauscher mehr – wurde seltsam zu Muthe. Eine Angst überschauerte ihn; seine Hände wurden kalt und schlossen sich fest ineinander.

Und jetzt – Hermann fuhr zusammen – der Frevler an Allem, was heilig war, hatte nicht umsonst gefleht.

Glühender Unwille ergoß sich durch alle Adern des jungen Mannes. Er sprang auf, nicht mit Zurückhaltung – nein, mit der Absicht, die Nähe eines Dritten bemerklich zu machen. Nicht länger wollte er Zeuge, Mitschuldiger von Sünde und Schmach sein. Hochaufgerichtet stand er; sein Auge bohrte sich durch das Dunkel.

In demselben Momente trat plötzlich der Vollmond aus dem schweren Gewölke und tauchte alle Nähe und Ferne in sein weißes Licht. Ueber das Gebüsch hinweg, welches Hermann's Gestalt verdeckte, begegneten sich die Augen beider Männer und hafteten eine Secunde lang ineinander. Der Oberst stand wie entgeistert und starrte den schönen blassen Jünglingskopf an, der gleich einer Marmorbüste aus dem dunkeln Laube aufragte. Nichts schien an diesem Kopfe zu leben als die glühenden, drohenden Augen.

Im nächsten Momente beugte sich der Oberst zu seiner Dame nieder und stieß leise, heftig die Worte hervor: „Rege Dich nicht!“ Als er sich wieder aufrichtete, that er einen Schritt auf den jungen Mann zu, aber schon der erste Aufblick zeigte ihm, daß es zu spät, daß auch seine Gefährtin erkannt war.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 290. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_290.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)