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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

die beiden Humboldts, erst Wilhelm, dann Alexander, daran gearbeitet, Gauß für Berlin zu gewinnen. Allein dieser hatte seit seiner Wiederverheirathung (1810) eine so beglückende Häuslichkeit, durch die erwähnten Arbeiten einen so erfolgreichen Wirkungskreis in Göttingen gefunden, daß er sich nicht entschließen konnte, dem ehrenvollen und vortheilhaften Rufe zu folgen. Aber der angeregte nähere Verkehr mit Alexander von Humboldt trug in anderer Richtung Früchte. Gemeinschaftlich schufen sie eine neue, wie aus der Erde hervorgestampfte Wissenschaft, die Wissenschaft von den Gesetzen des Erdmagnetismus. Gelegentlich eines Besuches bei Humboldt im Herbste 1828 hatte Gauß Wilhelm Weber kennen gelernt, in demselben eine ihm nahe verwandte Natur erkannt und dessen Berufung nach Göttingen (1831) durchgesetzt, um mit demselben eine gemeinsame Thätigkeit zu beginnen, die nur der Tod lösen konnte.

Im Jahre 1833 wurde im Vereine mit Humboldt der „Magnetische Verein“ begründet, die erste Organisation einer gemeinschaftlichen Arbeit zahlreicher, über die Länder zerstreuter Forscher an derselben Aufgabe, aus der später die meteorologischen Institute hervorgegangen sind. Wie Gauß den Geometern das Heliotrop gegeben, so bot er den Physikern jetzt ein bewunderungswürdiges Meßinstrument dar, das später von ihm selbst und von Weber noch verbesserte Magnetometer, ein Instrument, welches die kleinsten Schwankungen im Erdmagnetismus, bei elektrischen Strömungen etc. sicht- und meßbar macht und den Physikern so wichtig geworden ist, wie die Elle dem Kaufmann. Es wird in der Geschichte der Erfindungen und Entdeckungen unvergessen bleiben, daß von dem magnetischen Häuschen bei Göttingen Gauß und Weber 1833 die Drähte des ersten wirklich benutzten elektromagnetischen Telegraphen zogen, zuerst bis zur Sternwarte, später bis zum physikalischen Cabinet, auf eine Strecke von nahezu Meilenlänge, um einander ihre Beobachtungen blitzschnell mittheilen zu können. So diente der erste elektrische Telegraph, der diesen Namen verdiente – denn Anläufe dazu waren schon hundert Jahre früher genommen worden – rein wissenschaftlichen Zwecken, und führt es denen, die das vergessen könnten, zu Gemüthe, wie die Wissenschaft gewohnt ist, die oft sehr kärglichen Mittel, die man ihr gewährt, mit ungeheuren Zinsen zurückzuzahlen. Nicht ohne Interesse mag es dabei sein, zu erwähnen, daß der transatlantische Telegraph nach langen anderweitigen Versuchen beinahe genau zu der Form der Zeichengebung zurückgekehrt ist, welche Gauß und Weber dem ersten Telegraphen gegeben hatten.

Gauß und Weber blieben die Dioskuren der mathematischen Physik, in enger Arbeit verbunden, auch nachdem der Letztere in Folge der bekannten Erklärung gegen den hannöverschen Verfassungsbruch (1837) seines Lehramtes entsetzt worden und später (1843) für einige Zeit nach Leipzig gegangen, um 1849 an die Stätte der gemeinsamen Wirksamkeit zurückzukehren. Gauß hatte keine unmittelbare Veranlassung, sich an jenem Proteste zu betheiligen, da er, in den Zeiten der Fremdherrschaft angestellt, niemals auf irgend eine Verfassung vereidigt worden war, was ihn übrigens bekanntlich nicht abgehalten hat, dem Vaterlande ebenso treu zu dienen. Das echt deutsche Verhältniß der beiden Forscher konnte, wie gesagt, nur der Tod lösen, ihre Namen aber bleiben über denselben hinaus so unlöslich verschlungen, wie diejenigen von Luther und Melanchthon, Goethe und Schiller.

Gauß starb am 23. Februar 1855; Wilhelm Weber, der Letzte der Göttinger Sieben, entzückt die Gemeinde der Denker und Forscher durch immer neue Einblicke in das Innerste der Natur, und hat im vergangenen Jahre mit vollkommenster Geistesfrische sein fünfzigjähriges Doctorjubiläum feiern können. Freundschaft erwerben und Freundschaft erhalten, war, wie wir schon eingangs hervorhoben, eine hervorragende Gabe von Gauß, und diese Tugend, die ja alle übrigen im Keime gleichsam einschließt, muß an ihm besonders hervorgehoben werden, als Erinnerung, daß bei dem großen Rechner doch nicht Alles Berechnung war, und daß neben dem durchdringenden Verstande das Gemüth keineswegs zu kurz gekommen war. Mit Liebe umfaßte er die ganze Menschheit und wandte seine wahrhaftig nicht unfruchtbare oder trockene Zahlenwissenschaft mit eindringlicher Hingebung auch den rein menschlichen Verhältnissen, der Nationalökonomie, dem Versicherungswesen, der Mortalitätsstatistik und den Staatsfinanzen zu. Sein Entwurf für die Göttinger Universitäts-Wittwencasse wird als das Muster derjenigen aller ähnlichen humanitären Institute gerühmt.

Gauß war, wenn auch wahrscheinlich nicht streng kirchengläubig, so doch tief religiös, streng gegen sich selbst und milde gegen Andere, aller Eitelkeit fremd und in seinen Bedürfnissen bis zur Uebertreibung schlicht und einfach. „Ein kleines Studirzimmer, ein mit weißer Oelfarbe gestrichenes Stehpult, ein schmales Sopha und ein Lehnstuhl nach seinem siebenzigsten Jahre, ein einziges, trübe brennendes Licht, eine unheizbare Schlafkammer, einfache Lebensmittel, ein Schlafrock und ein Sammetkäppchen,“ das waren, wie Sartorius von Waltershausen erzählt, selbst in der Zeit seines ruhmvollen Alters alle seine Bedürfnisse. Er war immer der bescheidene Bürgerssohn vom Wendengraben in Braunschweig geblieben.

Dort hat sich nunmehr unter dem Präsidium des Geheimerath Dr. Trieps und dem Vorsitze des Oberbürgermeisters Dr. Caspari ein Comité gebildet, um dem großen Forscher in seiner Geburtsstadt ein Standbild zu errichten, dessen Grundstein an seinem hundertjährigen Geburtstage, dem 30. April, gelegt werden soll und für welches die Beisteuer aller seiner Verehrer in Anspruch genommen wird.[1] Wenn es auch einleuchtend ist, daß er sich in seinen Arbeiten ein schöneres Denkmal gestiftet hat, als ihm die Nachwelt je errichten kann, so wird doch selten die Pflicht eines äußerlichen Gedenkzeichens, die wir ja immer nur uns zur Ehre erfüllen, mahnender vor Augen treten, als gerade Gauß gegenüber, dessen unsterbliche Verdienste der Mehrzahl nicht unmittelbar bekannt und erkennbar sind. Man könnte glauben, daß die Deutschen ihre größten Geister nicht zu schätzen wissen, wenn sie auf diesen Geistesheros nicht so stolz blicken wollten, wie sie es mit gutem Gewissen dürfen.

Carus Sterne.



Kleinköpfige Kinder.
Von Dr. L. Büchner.

Im Jahrgange 1869 der „Gartenlaube“ (Nr. 44) habe ich in einem Aufsatze „Zwei Affenmenschen“ zwei mikrocephale oder kleinköpfige Kinder beschrieben, von denen das eine, Helene Becker von Offenbach, inzwischen gestorben ist, während in derselben Familie nicht weniger als drei weitere Kinder von ganz derselben Art zur Welt gekommen sind. Eins derselben starb schon vier Tage nach der Geburt; die zwei übrigen, Gretchen und Franz, leben in einem Alter von sieben und vier Jahren. Von diesen ist der vierjährige Franz wahrscheinlich der hochgradigste Mikrocephale, welcher bis jetzt überhaupt lebend und in einem gewissen Lebensalter beobachtet worden ist, da er seine verstorbene Schwester Helene durch den Grad seiner Verunstaltung noch übertrifft und da diese Letztere, mit Ausnahme eines von Dr. Sander beschriebenen fünf Monate alten Knäbchens, das kleinste Gehirn besessen hat, das bei Menschen bis jetzt gefunden worden ist. Dasselbe wog zweihundertneunzehn französische Gramm, während das gewöhnliche Gewicht eines erwachsenen menschlichen Gehirns dreizehn- bis fünfzehnhundert Gramm beträgt und zwei gleichaltrige Kindergehirne Gewichte von tausend und tausenddreihundert Gramm besaßen.

Wir verdanken diese Zahlen den Wägungen des Herrn Professor Theodor Bischoff in München, welcher die Leiche der Helene Becker sogleich nach deren im achten Lebensjahre erfolgtem Tode einer genauen anatomischen Untersuchung unterwarf und mit dieser Untersuchung einen höchst werthvollen Beitrag zur genauen und gründlichen Beurtheilung der menschlichen Mikrocephalen oder „Affenkinder“ lieferte. Die Bezeichnung Affenkinder oder Affenmenschen verdienen diese unglücklichen Wesen nämlich deshalb, weil sie nicht blos in dem anatomischen Baue ihres Körpers und ihrer Organe, insbesondere des Gehirns, sondern

  1. Beiträge für das Standbild werden von der Braunschweiger Bank entgegengenommen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 280. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_280.jpg&oldid=- (Version vom 24.4.2019)