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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Aber wie ich Dich kenne, darf ich Dir verzeihen. Persönliche Beweggründe haben Dich sicher nicht geleitet.“

„Löse mir vor Allem einmal das Räthsel meiner Verhaftung!“

„Viel Räthselhaftes ist an derselben nicht zu finden. Dein Signalement liegt seit länger bereits auf der Polizei. Deine Anwesenheit bei der Brücke ist denuncirt worden. Das ist die ganze Lösung.“

„Aber woher nahmst Du die Möglichkeit, mich zu befreien?“

Karl Hornemann schwieg einige Augenblicke. „Lassen wir das!“ sagte er endlich.

„Bist Du hier allmächtig, Karl?“

„Ich will Dir ein paar weitere Fragen gleich abschneiden. Der Abgeordnete befindet sich seit drei Stunden in der Stadt. Seit gestern Morgen wußten wir in Bramkerken, was hier geplant war, und wir haben es durchkreuzt. – Und nun hast Du vielleicht die Güte, mir über Deinen Aufenthalt und die jüngsten Vorgänge in der Erlenfuhrt einige Auskunft zu ertheilen.“

Der Hüne war durch die kurze, kühle Art seines Begleiters verschüchtert. Stockend und holperig begann er, bis die Erinnerung seine Worte wärmer färbte und sein Wesen in rührender Begeisterung aufglühte. Gesenkten Hauptes schritt Karl Hornemann neben ihm her, mit keinem Laut seine Empfindungen verrathend.

Der Friese war mit seinem Bericht fertig, als sie das Ende der Straße erreicht hatten. Sie standen zwischen den Chausseepappeln; der Wind hatte wieder zu pfeifen begonnen. Der geschwollene Fluß brauste, und es war so finster, daß Keiner die Gesichtszüge des Andern zu erkennen vermochte.

Der Pascha seufzte tief und schmerzlich wie ein Verwundeter.

„Ich bin sehr in Sorgen, Harro; lebe wohl für diesmal!“

Zwei Stunden später klopfte der Flüchtling an das Fenster der Wirthschaft in der Erlenfuhrt. Die Hähne krähten im Stalle, und ein Hund bellte unter dem Thorweg hervor.

Der Wirth öffnete endlich.

Harro erkundigte sich nach Urban und erfuhr, daß derselbe sein Lager bisher nicht habe verlassen können. Er selbst warf sich noch für ein paar Stunden auf ein Bett, ohne den rechten Schlaf zu finden, ließ sich dann etwas Frühstück bereiten und verließ, nachdem er für Urban einige Zeilen niedergeschrieben, das Haus.

Wohin nun? Wieder landauf und landab in seiner alten Weise. Der Traum war ausgeträumt; der nüchterne Tag blickte ihm in die Augen.

Jahrelang, mehr als ein Jahrzehnt hindurch hatte ihn nichts gekümmert, als seine politischen Ideale. Ein rüstiger, kraftfroher Schwimmer, hatte er sich in den Wogen des Parteigetriebes getummelt wie ein Delphin. Jetzt zum ersten Male empfand er ein inneres Widerstreben gegen das Leben Kain’s, des unsteten und flüchtigen; es schien ihm, als ob sein Blut schwerer geworden sei, die Spannkraft seiner Muskeln nachgelassen habe.

Er fragte sein Herz, was das Glück sei, und es antwortete ihm mit einem bittersüßen Gefühl, dem er sich willenlos überließ.

Er ging einen schmalen Weg zwischen Zäunen, an deren Fuße die Nesseln in Büschen wuchsen, und betrat endlich feucht aufgeweichten Gartenboden, auf welchem sein Fuß tief in die Grasnarbe einsank. Zwischen den von Nässe glänzenden Obstbäumen blickte das weißgestrichene Haus mit den grünen Fensterläden, um welche der Wein rankte, lockend herüber zu dem langsamen, nachdenklichen Manne, und er schritt auf dasselbe zu, scheu um sich blickend wie ein Knabe, welcher naschen will.

Die Fensterscheiben, zu denen er hinüberschielte, starrten ihn leblos an; eine leise Hoffnung, hinter ihnen ein Mädchenantlitz zu gewahren, hatte ihn getäuscht. Er stand zaudernd an der Thür, die Hand auf den Drücker gelegt. Aber was wagte er denn? Er wollte sich verabschieden.

Eine Magd, die er im Hausflure nach Fräulein Hornemann fragte, wies ihn die Treppe hinauf in deren Zimmer. Milli saß im bequemen Hauskleide da und wandte ihm den Rücken, als er durch die knarrende Thür trat, aber der schwere Männertritt in der Stube verkündete ungewohnten Besuch. Sie drehte den Kopf, und als sie seiner ansichtig ward und mit leichtem Erröthen aufsprang, sah er, daß sie geschrieben hatte.

„Ich muß wandern, Fräulein Milli, und will Ihnen zuvor Lebewohl sagen.“

„Wo kommen Sie her, Harro? Was ist gestern in der Stadt geschehen? Ich fürchte, nicht viel, denn meine Freundin ist den Abend noch nach Hause gefahren und würde mich nicht haben verlassen dürfen, wenn es Unruhen gegeben hätte.“

Der Friese erzählte mit wenigen Worten die Geschichte seiner Fahrt, und das schöne Mädchen hörte mit athemloser Aufmerksamkeit zu; nur gegen das Ende der Erzählung flüsterten ihre von bewunderndem Stolze geschürzten Lippen: „Mein Karl, mein lieber, gewaltiger Bruder!“

„Ich muß also meinen Stab weiter setzen,“ schloß Harro. „Ich bin ja an die Luftveränderung gewöhnt; der Regen und der Sonnenschein sind beide meine Wandergesellen. Aber ich möchte mir eine Last von der Seele wälzen, bevor ich scheide; ein Wanderer darf kein schweres Gepäck mit sich schleppen. Ich danke Ihnen vierzehn schöne Tage – es waren ihrer noch mehr, glaube ich, aber sie schlossen mit ein paar dunkeln unverständlichen Stunden ab. Sie verstehen wohl, was ich meine –“

Sie hatte während dieser Rede die Farbe gewechselt und angstvoll verlegene Blicke auf die blühenden Büsche von Lack und Geranium im Fenster geworfen – plötzlich fiel sie ihm in’s Wort:

„Nicht weiter, Harro – ich flehe Sie an; ich kann Ihnen darüber keine Aufklärungen geben –“

„Mißverstehen Sie mich nicht! Ich will nur Eines fragen: ist Ihr Herz schon gebunden?“

„Ich bin verlobt,“ sagte sie leise mit blassen Lippen.

„Das genügt,“ gab er mit scheinbarer Ruhe zur Antwort. „Es wäre ein Wunder, wenn Sie es nicht wären. Möchte der Mann Sie verdienen, der Sie besitzen wird! Ich werde vorläufig von ihm glauben, daß er kein Schuft ist,“ fügte er forschend hinzu.

„Es ist nicht Urban –“

„Gott sei Dank! Das ist das Zweite, was ich gern gewußt hätte. Vergessen Sie einen Freund nicht, und wenn Sie, wie alle Frauen gern thun, später einmal von Ihren Triumphen erzählen, so sagen Sie: auch Ahasver, der ewige Jude, hätte Sie geliebt, es hätte ihm aber nichts genutzt, denn er sei verflucht zum Wandern. Leben Sie wohl, Fräulein Milli!“

Sie reichte ihm stumm die Hand, die er mit heißen Lippen küßte. Dann schritt er, ohne sich umzusehen, hinaus, das hohe, blondlockige Haupt, das beinahe die gedrückte Decke erreichte, tief neigend, als er durch die Thür ging.

Sie preßte die Hand auf das Herz, und ihre braunen Augen wurden feucht. Endlich athmete sie tief auf und fuhr sich über die Stirn. „Das wäre der letzte schwere Augenblick, die letzte Abwehr. Der Weg ist frei, ganz frei. Nun komme, was kommen muß! Es giebt mehr arme Seelen, die auf Gräbern sitzen und weinen müssen.“

Sie nahm Platz, um weiter zu schreiben, aber die Hände versagten ihr den Dienst, und sie legte die Feder nieder. Am Fenster stehend, starrte sie trübe auf den Fluß und den wolkenverschleierten Berg hinüber.

Der Friese gelangte in den naßkalten Wald, tapfer vorwärts schreitend und den Stock schwingend. Nur seine unruhigen Augen, welche wenig auf den Weg achteten, und ein leiser Zug von Wehmuth um den Mund sprachen von innerer Bewegung, von dem Geheimnisse eines kranken Herzens. Er war bereits, in Gedanken verloren, über die Stelle hinausgegangen, wo die Zigeunerniederlassung gestanden hatte, als ihm die Erinnerung an diese Leute kam; ein Zug mitleidigen Interesses führte ihn die paar Hundert Schritte zur Waldwiese zurück. Da sah er denn, daß, abgesehen von den aufgerichteten Reisigwänden des Zeltes, jede Spur ihrer Anwesenheit verschwunden war. Aber eine Stunde später etwa holte er ihr langsam schleichendes Gefährt ein. Der Mann und der Bursche gingen nebenher; von dem Mädchen war nichts zu erblicken. Seine Begrüßung wurde kalt erwidert; wortkarg nahm man seine theilnehmenden Fragen auf, und als er sich nach der Zigeunerin erkundigte, die er unter der Plane des Wagens zusammen mit den Kindern vermuthete, erfolgte erst gar keine Antwort, bis der Bursche endlich sagte, sie sei auf einem kürzern Wege zum nächsten Nachtquartiere vorausgegangen. Die Gesellschaft wurde dem Friesen zuletzt unbehaglich, und er wanderte nach kurzem Abschiede beschleunigten Schrittes voraus. –

Der Tag war bereits ein gutes Stück weiter vorgerückt – da

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_274.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)