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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


Poetisches Berlin. Wer den Volkscharakter der jetzigen deutschen Hauptstadt nicht erst seit gestern und nicht blos aus flüchtigen Eindrücken kennt, der wird es nicht belächeln, wenn von einem romantischen Zuge des eigentlichen berlinischen Wesens gesprochen wird. In der That hat das als verstandeskalt und prosaisch verschrieene Berlin immer einen ungewöhnlich starken Hang und Drang poetischen Strebens und Regens in sich getragen. Die ungeheuren Steinmassen des endlos sich ausdehnenden Straßennetzes, sowie die Dürftigkeit der Naturumgebungen mögen wohl als Gegensatz das Bedürfniß weichen Gefühlsaufschwungs, die Sehnsucht nach lebhafter Erwärmung der Innerlichkeit in den Gemächern erzeugt oder gesteigert haben. Genug, dieser Zug ist von altersher dort auffällig in den höheren wie in den mittleren Gesellschaftsschichten, besonders in der Jugend und bei der Frauenwelt zu finden, und er hat sich namentlich in den vormärzlichen Jahren bis zu der politischen Wendung von 1840 auch in einem regsamen dichterischen Leisten ausgeprägt. Verschiedene Dichtergruppen wetteiferten damals mit einander in ebenso rüstigem wie achtungswerthem Schaffen, und unter ihnen stand auch eine neuerwachsene Schule jugendlicher Sänger, in denen unklar, aber energisch der junge Wein moderner Freiheits- und Emancipationsideen gährte, talent- und gemüthreiche, zum Theil geniale Menschen, welche in innigem Seelenbunde sich vereinigt hatten, von denen aber als Dichter nur einige, wie Gaudy, Ferrand, die beiden Marggraff, Sallet, Minding, Brunold, einen mehr oder minder hervorragenden Platz in der Geschichte unsrer neuern Lyrik behauptet haben. Die meisten Genossen dieser aufstrebenden Tafelrunde sind frühe ihren inneren Gluthen und den tragischen Zusammenstößen der Genialität mit der harten Wirklichkeit erlegen, und nur hier und da begegnen wir noch Einem von ihnen unter den Lebenden. Zu diesen gehört neben Bernstein, der bis zum heutigen Tage als wissenschaftlicher Volksschriftsteller und politischer Publicist eine gefeierte und einflußreiche Wirksamkeit entwickelt, auch der oben genannte F. Brunold, ein gemüthswarmer Liedersänger und Novellist, den wir gleichsam als den Geschichtsschreiber seines einstmaligen Jugendkreises und der Strebungen und Stimmungen desselben bezeichnen können.

Was Brunold seit einer Reihe von Jahren in anziehenden Einzelschilderungen (zum Theil in der „Gartenlaube“) von den interessanten Persönlichkeiten des frühern poetischen Berlin zu erzählen wußte, daraus hat er einen anmuthigen Cypressen- und Lorbeerkranz gewunden, welcher unter dem Titel „Literarische Erinnerungen“ schon vor längerer Zeit (bei Schauenberg-Ott, Zofingen und Leipzig) erschienen ist. Ein poesie- und stimmungsvolles Buch, über dem ein zarter Hauch ergreifender dichterischer Wehmuth liegt und das in seiner novellistischen Färbung doch einen culturgeschichtlich-biographischen Werth besitzt, da es erinnerungswerthe und doch halb oder gänzlich vergessene Gestalten uns lebendig vor die Seele zaubert und unsern Geist in den traulich-warmen Dämmerschein entschwundener Tage versetzt, aus denen noch gar Manches fesselnd zu unserm Empfinden spricht. Wir wandeln gleichsam durch einen von lichter Frühlingssonne bestrahlten, in lieblichem Blüthenflore prangenden Friedhof, auf dem uns die Leichensteine von den Schicksalen, dem einstmals so heißen Ringen, dem Leben, Schaffen und Lieben der hochbefähigten, liebenswürdigen und seltsamen Menschen berichten, die nun schon so lange da unten still in den Gräbern schlafen. Die Welt ist seitdem anders geworden. Wenn aber ihre Stürme und Kämpfe einmal siegreich sich beschwichtigt haben werden, wird sie unstreitig an viele schöne und feine Züge wieder anknüpfen, welche der Gefühlsrichtung jener Zeit noch eigen waren. Heiteres freilich ist nicht viel in den genußreichen Bildern, die uns Brunold hier gezeichnet hat, und zu den mancherlei ernsten Betrachtungen, die uns dabei bewegen, gehört auch der Gedanke an den Verfasser selbst. Er hat manche vortreffliche Erzählung geschrieben und manches wunderschöne Lied gesungen, das noch heute im Munde des Volkes lebt. Aber nach kurzer Jugendzeit, die er in inniger Gemeinschaft mit gleichstrebenden Genossen verleben durfte, hat er sein ganzes ferneres Dasein in einer der kümmerlichen Schulstellungen eines abgelegenen Oertchens vertrauern müssen. Dem treuen und anerkannt wackeren Jugendlehrer ist bisher nicht der verdiente Lohn geworden. Möge ihm wenigstens die Anerkennung nicht fehlen, welche seinem ernsten dichterischen Streben gebührt!




Ein neuer Kaspar Hauser. Vom Magistrate zu Pritzerbe bei Brandenburg geht der Redaction der „Gartenlaube“ folgende Zuschrift zur Veröffentlichung zu:

„Am 8. November wurde mir,“ so schreibt der Herr Bürgermeister Heidert, „von dem Gensd'armen Hartmann ein junger Mensch vorgeführt, der wegen Bettelns verhaftet worden war. In seiner Vernehmung gab er an, er heiße Hermann Groll, wisse nicht, wie alt er sei, noch wo er geboren; seine Eltern habe er nicht gekannt und sei, so lange er denken könne, mit einer großen Schaar Zigeuner herumgezogen. Im Frühjahre 1876 seien in der Schweiz unter den Zigeunern Streitigkeiten ausgebrochen, und einer derselben, Fasti mit Namen, habe sich mit ihm von den Andern getrennt und sei mit ihm nach Deutschland gegangen. In einem Orte hinter Berlin, den Namen vermöge er nicht genau anzugeben, habe Fasti ihm gesagt: 'Du kannst nun gehen. Du gehörst nicht zu uns. Du heißt Hermann Groll, bist, als Du klein warst, in Holstein gestohlen. Gehe nach Holstein! Du wirst dort Deine Eltern finden.'

Groll will nun weiter gegangen sein, fragend, wohin der Weg nach Holstein gehe. Am 17. April 1876 ist derselbe nach Brandenburg gekommen, hat dort bis zum 26. October 1876 bei dem Speisewirthe Fey gedient, ist dann wegen Mangels an Arbeit entlassen und nachher verhaftet und mir vorgeführt worden.

Groll bat mich dringend, ihn irgendwo unterzubringen; er wolle gern arbeiten. Ich habe ihn bei einem Schmiedemeister in die Lehre gebracht, und er hat sich bis jetzt fleißig und ordentlich geführt; ein gleiches Zeugniß hat der pp. Groll auch von seinem Brandenburger Arbeitsherrn erhalten. Dem Oberprediger unseres Ortes, welcher ihm im Winter Unterricht im Lesen ertheilte, hat Groll viel von den großen Reisen der genannten Zigeunergesellschaft erzählt und dabei eine ziemlich scharfe Beobachtungsgabe bekundet. Dabei erzählte er auch, daß noch mehrere Knaben, Deutsche, bei der Gesellschaft gewesen, die zum Pferdefüttern etc. verwendet worden seien.

Groll ist anscheinend sechszehn bis siebenzehn Jahre alt, von kräftiger Figur, hellblonden Haaren und augenscheinlich ein Norddeutscher. – Eine genaue Verhandlung ist mit ihm noch nicht möglich gewesen, da er mir gegenüber noch sehr scheu ist; auch ist vorzüglich noch aufzuklären, warum er nur Deutsch spricht, während, nach seiner Mittheilung an den Oberprediger, die Zigeuner die längste Zeit in Spanien, Frankreich, der französischen Schweiz, in Ungarn, Rußland, der Türkei, in Klein-Asien und sogar in Persien gewesen sein sollen.“

Soweit die obrigkeitliche Angabe. Eine Privatzuschrift nannte den Unbekannten nicht Groll, sondern Zorn. Offenbar spielt hier die Sinnverwandtschaft der Wörter eine Rolle und dürfte für die Aufsuchung der Angehörigen des Findlings zu beachten sein.




Eine schwimmende Schule. Ein schwimmendes Hospital haben wir in Amerika schon, das zur heißen Jahreszeit Tausende von armen Müttern und kränklichen Kindern den Casernenwohnungen entführt und ihnen frische Luft und momentane Befreiung von Sorgen gewährt. Und nun sollen wir auch – eine schwimmende Schule erhalten. Professor Theodor B. Comstock von der Cornell University, einer eigenthümlichen Anstalt, in der die Zöglinge neben dem theoretischen Unterrichte in die Praxis eingeführt werden, will einen Cursus der Naturwissenschaft auf einem Dampfer in’s Leben rufen. Er soll eine Fahrt auf den großen Seen machen und interessante Punkte besuchen, an denen man behufs biologischer Studien sammeln will. Der Dampfer soll am 5. Juli von Buffalo oder von Cleveland abgehen, seine Fahrt längs dem südlichen Ufer der Seen machen, westlich am Lake Superior herumgehen und dann seine Fahrt rückwärts am nördlichen Ufer vollenden. Der geologische Unterricht und die allgemeine Leitung wird hierbei dem genannten Gelehrten zufallen, und andere tüchtige Lehrer sollen die Expedition zum Zweck von Untersuchungen in ihren speciellen Fächern begleiten. Die Kosten werden zum Theil von den Mitgliedern der Gesellschaft getragen, von deren Unterhalt die Anstalt überhaupt abhängt, und zum Theil aus Sammlungen, die man hierbei auch mit für andere Anstalten anlegt. Die Fahrt ist auf dreißig Tage festgesetzt worden, wenn die Mitglieder dieser „fahrenden Schule“ es nicht vorziehen sollten, dieselben noch um etwas zu verlängern.

D.




Für Orden- und Titel-Narren neue Gelegenheit! Für lumpige 28,000 Mark kann man „erblicher ungarischer Edelmann“ und „erblicher römischer Graf“ werden; um dieselbe Summe ist das Ritterkreuz des italienischen Kronen-, sowie des Lazarus- und Mauritiusordens feil. Wem das zu viel Geld ist, hat für nur bis 3000 bis 5000 Mark die Auswahl von päpstlichen, spanischen, portugiesischen, russischen, brasilianischen und französischen (alten Familien-) Orden; in gleichem Preise stehen die der Sultane von Tunis und Tripolis, des Schahs von Persien, des türkischen Padischah und unterschiedlicher Republiken, wie Honduras und San Marino. Sogar emaillirte Ehrenkreuze von Rettungsvereinen verschafft man gegen Geld und gute Worte. – Wir würden dieses stille Vergnügen der Dummen mit keiner Zeile erwähnt haben, wenn nicht der betreffende dunkle Geschäftsmann in London ankündigte, daß er für Summen von 2500 bis 8000 Mark Hoflieferanten-, Commerzien-, Medicinal-, Hof- und sonstige Rathtitel auch von deutschen Staaten feilhalte. Wir haben nicht Lust, den Namen dieses Feilbieters zu verbreiten; dagegen steht derselbe Staatsanwälten, welche in der Ankündigung dieses Titelverkaufsgeschäfts ihrer Regierungen eine Ehrenkränkung derselben erkennen, jederzeit zu Gebote.




Die Direction der Hessischen Ludwigs-Eisenbahn in Mainz ersucht uns um Veröffentlichung nachfolgender Zeilen: „Im Sommer vorigen Jahres ist im hiesigen Bahnhofe durch einen diesseitigen Bediensteten ein Säckchen aufgefunden worden, in welchem sich theils in amerikanischem, theils in deutschem Reichsgolde eine Summe Geldes im Werthe von circa dreihundert Reichsmark, sowie ferner ein Ring, mit Steinen besetzt, befand. Es hat den Anschein, daß diese Gegenstände einem Auswanderer oder auch einem aus Amerika zurückgekehrten Reisenden gehört haben, und es läßt das Aeußere des Säckchens vermuthen, daß der Eigenthümer, respective die Eigenthümerin gerade nicht den wohlhabenden Classen angehörte.

Wir haben auf Grund des Paragraphen dreiunddreißig des Betriebsreglements das Fundstück einstweilen in Verwahrung genommen, und die bis jetzt diesseits eingeleiteten Recherchen und Nachfragen bei der Polizeibehörde sind von einem Erfolge nicht begleitet gewesen.

Da die „Gartenlaube“ in Folge ihrer großen Verbreitung vorzugsweise geeignet erscheint, zur Ermittelung des Eigenthümers beizutragen, so erlauben wir uns, Sie ergebenst zu ersuchen, in Ihrem geschätzten Blatte die gegenwärtige Mittheilung zu veröffentlichen.“



Kleiner Briefkasten.


G. Z. in L. Sie kommen mit ihrer Gratulation leider zu spät. Unser geschätzter Mitarbeiter J. D. H. Temme hat bereits am 5. d. M. in ungetrübter Heiterkeit und unter den rührendsten Beweisen allgemeiner Theilnahme seine goldene Hochzeit gefeiert. Wir freuen uns von Herzen der nachhaltigen Verehrung, welche der alte Freiheitskämpe und Veteran der deutschen Criminalnovelle im Bewußtsein seines Volkes genießt.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_272.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)