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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


15.

Als der Wagen, in welchem Harro und Bandmüller saßen, zwischen den ersten Häusern der Stadt hinrollte, lüftete der Letztere ein wenig das Wagenfenster auf seiner Seite, denn es war nicht möglich, durch die regengepeitschten Scheiben etwas zu sehen. Ein paar Fahnen, deren Anblick die Beiden im Vorüberfliegen erhaschten, gewährten einen kläglichen Anblick; der Wind hatte sie wie Stricke zusammengedreht und theilweise über den Stock geschlagen. Die wenigen Menschen, welche sich auf der Straße befanden, verbargen sich unter Regenschirmen und zeigten in ihrer Haltung eher das Bestreben, unter Dach und Fach zu kommen, als den herausfordernden Muth eines Soldaten der Freiheit, welcher den Kampf erwartet.

„Nichtswürdiger Regen!“ brummte der Fabrikleiter verdrießlich und schloß das Fenster wieder. „Wenn das so weiter gießt, stehe ich für nichts.“

„Eine Revolution mit Regenschirmen – das wäre allerdings etwas Neues,“ fügte Harro hinzu und verlor einen Augenblick den strengen Ernst aus dem Gesicht.

Die Fahrt durch die Stadt wollte kein Ende nehmen. Bandmüller rutschte ungeduldig von einem Fenster zum andern, aber nur die vermehrte Helligkeit des einfallenden Lichtes verriet zuletzt, daß sie in’s Freie gelangten. Noch einmal öffnete jener; sie fuhren auf der Chaussee, und vor ihnen lag ein Wiesenstreif, der sich bis zum Flusse erstreckte; dort ragte der Triumphbogen vor der mit Grün bedeckten Brücke empor; unter ihm standen, Kopf an Kopf gedrängt, so viel Menschen, wie zwischen den grünen Pfeilern Platz fanden. Etwa dreißig Personen bewegten sich, zum Theil mit Schirmen über sich, auf der Wiese, viele davon sichtlich im Begriffe, zur Stadt zurückzukehren. Ein paar Männer, an denen der Wagen vorbeifuhr, neigten sich spähend zu demselben herüber, und Bandmüller ließ hastig das Fenster vollends hernieder und steckte den Kopf in den Regen hinaus.

„Hier bleiben!“ rief er. „Wir kommen.“

„Es wird nichts, Herr Bandmüller!“ tönte es zurück. „Das kann kein Mensch aushalten.“

„Es muß etwas werden!“ brüllte Bandmüller wieder. „Kutscher, halt, halt!“

Der Wagen hielt, und der Fabrikleiter sprang hinaus und rannte auf die wartenden Männer zu.

„Seid Ihr des Teufels? Wollt Ihr die Schande auf Euch nehmen, daß man am ganzen Rhein hinunter und vielleicht in der ganzen Welt sagt, Ihr hättet keine Revolution zu Stande gebracht, weil Ihr Euch vor dem Regen gefürchtet hättet, als ob Ihr von Zucker wäret? Lauft in die Stadt, trommelt zusammen, so viel Ihr könnt! Und wenn es Euch die Kleider in Stücke regnet! Es giebt neue in der Stadt, die besser sind.“

„Ist der Herr Doctor mitgekommen?“

„Der ist krank, aber er schickt Euch Jemanden, der ebenso gut ist wie er. Wollt Ihr, oder wollt Ihr nicht?“

„Ja ja – probiren wollen wir es schon.“

„Aber nur schnell, darauf kommt Alles an!“

Bandmüller kehrte in eiligen Sätzen zum Wagen zurück. „Vorwärts zur Brücke!“ rief er im Einsteigen. Die Pferde lenkten auf einen Fahrweg ein, der quer über die Wiese führte, und bald nachher hielten sie, umdrängt von Menschen, vor den grünen Säulen des Bogens.

„Ein Hurrah für Herrn Bandmüller!“ riefen einige Stimmen. „Wen haben Sie denn da mitgebracht? … Ist der Doctor drin?“

„Hier ist Herr Harro, ein berühmter Mann, den uns der Doctor als Anführer mitschickt, weil er in der Erlenfuhrt krank liegt; er ist die Nacht mit einem Kahne in den Fall gerathen und halb todt davon gekommen. Wo sind die Anderen? Warum habt Ihr sie nicht gehalten? Wo sind Eure Sachen geblieben?“

„Das Zeug liegt dort auf einem Haufen,“ antwortete ein Mann über die Seite deutend, und als Bandmüller ihn ansah, erkannte er Sebulon Trimpop, dessen Gesicht halb in einer dicken Winterkappe mit Ohrlappen stak.

„Platz für Herrn Harro, Platz für den General!“ ertönte es, als die imposante Gestalt des Friesen aus dem Wagen stieg, und eine Gasse öffnete sich in die Halle des Bogens. „Das ist der Richtige! Ein Hoch für unsern General!“

Dreimal scholl das Hoch, aber es hallte nicht weit in die dicke Regenluft hinaus. Harro nahm seinen Hut vom Kopfe und seine blauen Augen musterten die Schaar.

„Leute,“ sagte er mit tönender Stimme, „hundert Menschen bringen hier keine Revolution zu Stande; wir haben wenigstens die zehnfache Zahl nöthig, um die einfachsten Anstalten zu treffen. Die Hälfte von Euch muß zur Stadt, um Zuzug zu schaffen, wenn solcher zu haben ist. Freiwillige vor!“

Ein Drittel der Anwesenden stürzte in den Regen hinaus; eine weitere Anzahl schloß sich auf die Mahnung Bandmüller's denselben an; dieser blickte auf die Uhr und rief ihnen nach: „Ich gebe Euch kaum eine halbe Stunde Zeit. Es wird gleich das erste Mal läuten.“

Und plötzlich klang auch das erste Anschlagen von Glocken; andre fielen ein; es summte und brummte und dröhnte, aber gehemmt und stumpf und als hingen die ehernen Mäuler eine Stunde entfernt. Das Prasseln des Regens blieb so vernehmlich wie zuvor.

Die Zeit verging; Harro sprach mit Bandmüller und gab einige Anordnungen, aber das zusammengeschmolzene Häuflein, welches sich um keine Seele vermehrte, gerieth allmählich in eine immer gedrücktere Stimmung. Die himmlischen Wasser machten allmählich einen wolkenbruchartigen Eindruck, und der Wind wehte stärker.

Ein kurzer Krach – und ein schwerer Gegenstand sauste dicht vor den zurückdrängenden Männern auf die Wiese: es war die große schwarz-roth-goldene Fahne. Die Stange mochte nicht völlig tactfest gewesen und das durchnäßte Tuch schwer genug geworden sein, um einem Windstoße bequemes Spielzeug zu gewähren. Die Leute murmelten unter einander; der Aberglaube zog seine Schlüsse.

„Geben wir's auf! sagte Harro finster.

Bandmüller stieß einen schweren Fluch aus. „Die Bauern sind ohnehin heute Morgen nicht gekommen. Aber ich habe in der vergangenen Nacht Leute in die Provinz hinaus geschickt; sie werden überall ausposaunen, daß heute hier Alles in hellen Flammen stünde.

„Sie werden so vernünftig sein, in irgend einem Wirthshause zu sitzen und den Mund zu halten,“ erwiderte Harro. „Verschieben wir die Sache! In solchem Gusse brennt kein Feuer.“

„Wir haben lange genug auf eine Gelegenheit warten müssen; sie kommt gerade so oft wie eine Sonnenfinsterniß.“

Die Glocken fingen wieder zu läuten an, und gleichzeitig schien es, als wollte der Regen etwas nachlassen.

„Da haben wir’s,“ knurrte Bandmüller giftig; „es ist neun Uhr.“ Er trat einen Schritt hinaus und ballte beide Fäuste in den Himmel hinein.

Harro betrachtete ihn kopfschüttelnd und wandte sich dann um. „Ich will verdammt sein, wenn mir je so etwas von einer Aehnlichkeit vorgekommen ist. Ich muß mich doch einmal näher nach der Vergangenheit des Burschen erkundigen,“ sprach er zwischen den Lippen.

Auf dem Wege jenseits der Brücke wurde ein Wagen sichtbar, dem sich die allgemeine Aufmerksamkeit zuwandte.

„Das ist einer von unsern Wagen,“ rief eine Stimme, „das sind sie.“

„Sie sind ja in zwei Wagen hinausgefahren,“ lautete eine Entgegnung.

Das Fuhrwerk schlich langsam über die Brücke, und Alles stürzte hinaus, die Ankunft erwartend.

Pferde und Kutscher trieften. Der Wagen war leer.

„Wer ist hier der Oberste?“ fragte der Kutscher und zog einen Brief aus der Tasche.

Ein Dutzend Hände streckten sich nach dem Papier, und man brachte es zu Harro. Während dieser das Siegel erbrach, wandte der Rosselenker um und fuhr wieder davon.

Die Neugier war auf's Höchste gereizt.

„Leute,“ sprach der Friese verdrießlich und ließ das Papier sinken, „der Abgeordnete ist bis jetzt noch nicht angelangt; warum, das weiß man nicht zu sagen. Ihr sollt nach Hause gehen; ein Bote wird die Nachricht herbringen, sobald der Herr in Bramkerken eintrifft. Nun – vielleicht ist doch ein Glück dabei,“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_259.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2019)