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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)

unmittelbaren Anschauung abgeleitet. Spielhagen nennt sich selbst mehr einen Finder als einen Erfinder. Natürlich handelt es sich hierbei nicht um ein nüchternes Abschreiben der Wirklichkeit. Der Poet darf seine Modelle nur benutzen um ihnen selbstständig nachzuschaffen. Diese Fähigkeit besitzt Spielhagen in hohem Grade. Wenn er in’s volle Menschenleben hineingreift, sieht er wohl gewissen Personen und Ereignissen einzelne Züge ab, aber die lebensvollen Gestalten seiner Romane sind doch echt künstlerisch gebildet, da ihnen das Gepräge seines Dichtergeistes aufgedrückt ist.

All diese Vorzüge traten bereits in den „Problematischen Naturen“ in das hellste Licht. Die scharfe Beobachtung von Menschen und Zuständen, der ausgesprochene demokratische Sinn, die mitunter kühne und doch stets anmuthig geschilderte Sinnlichkeit mußten dem Dichter schnell die Herzen gewinnen, und wenn auch die Fortsetzung, „Durch Nacht zum Licht“, den ersten Roman an Prägnanz nicht erreichte, so war doch das Ganze Fleisch von unserm Fleische und Geist von unserm Geiste. Der Held des Doppelromans, Oswald Stein endet bekanntlich auf den Barrikaden. Spielhagen scheint einen solchen gewaltsamen Schluß zu lieben, da er ihn auch in dem Romane „Die von Hohenstein“ (1863) anwendete, wo allerdings der Zusammensturz weniger jäh, dafür aber auch ungleich ergreifender ist. Freilich tritt hier des Dichters Haß gegen den modernen Adel in einer etwas grellen Weise hervor, durch welche die Familie Hohenstein zu einer Reihe erbärmlicher Lumpen gestempelt wird. Wenn auch die Charakteristik der einzelnen Figuren vortrefflich ist, so macht der Haß den Dichter doch blind gegen die Vorzüge der seinen Tendenzen widerstrebenden Partei. Es ist interessant zu beobachten, wie sich auch in dieser Beziehung in Spielhagen’s Dichtergemüth ein Läuterungsproceß vollzog, der ihn befähigte, in seinen späteren Schöpfungen auch seinen Gegnern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In dem großen Werke „In Reih’ und Glied“ (1866) schuf er wiederum ein Werk von gleicher Trefflichkeit des Inhalts wie der Form. Im Anschlusse an die glänzende Erscheinung Lassalle’s, der dem Helden Leo als Urbild gedient hat, entrollt der Roman ein allumfassendes Gemälde der Gegenwart von Farbenpracht und Figurenreichthum. Daß der Mensch seinen Werth erst aus dem Verhältnisse des Einzelnen zur Gesammtheit erhält, daß allein die Ertödtung der Selbstsucht und die gemeinsame Arbeit glücklich macht, bei welcher auch der Größte nur ein gemeiner Soldat sein darf in der Armee der Freiheit, bildet den erhebenden Grundgedanken dieses Musterromans, aus dem die nachfolgenden Geschlechter dereinst das Ringen und die Ziele unsrer Culturarbeit erkennen könnnen. Einen fast noch größern Erfolg hatte der 1869 erschienene Roman „Hammer und Amboß“, der den im Titel angedeuteten socialen Grundgedanken mit feinfühlendem, für die Sache der Humanität begeistertem Sinne darstellt und auf die Gebote gegenseitiger Hülfsbereitschaft und Brüderlichkeit wie auf ein Evangelium der Zukunft hinweist.

Nach dieser gewaltigen Kraftanstrengung machte sich in dem Roman „Allzeit voran“ (1872) eine gewisse Ermattung in Spielhagen’s Schaffen geltend, das sich jedoch unmittelbar darauf in dem kleineren Roman „Was die Schwalbe sang“ (1873) durch die geschickte Verwebung der Fabel und der Charaktere wieder einigermaßen hob. In dem jüngst erschienenen Roman „Sturmfluth“ bietet er uns endlich die reifste Frucht seiner Weltanschauung. Spielhagen hat sich in dieser Schöpfung von allen Einseitigkeiten seiner früheren Erzeugnisse frei gemacht und eine in der Anlage wie in der Ausführung gleich vollendete Leistung hervorgebracht, der sich in Bezug auf Großartigkeit der Composition und Fülle der Gedanken nur Weniges auf dem Gebiete der Romanliteratur an die Seite stellen läßt. Die gewaltige Sturmfluth der Ostsee vom 23. November 1872 mit der durch das Gründerunwesen über unsere wirthschaftlichen Verhältnisse einherbrausenden Sturmfluth zu einem tragischen Gemälde vereinigen zu wollen, war ein Gedanke, dessen Kühnheit nur noch von dem prachtvollen, bei dem Aufbau des Romans bewährten Schwunge übertroffen wird. Bei der Schilderung des socialen Ereignisses und des Naturphänomens verräth Spielhagen seltenen Reichthum an Charakteren, große Mannigfaltigkeit der Begebenheiten in der Architektonik der Dichtung bekundet er eine bewunderungswürdige Meisterschaft. Das Gesetz der Objectivität, welches von dem epischen Dichter verlangt, nicht in eigener Person hervorzutreten, sondern seine Gedanken und Empfindungen in Situationen und Handlung umzusetzen und dem Kunstwerke als organische Glieder einzufügen, wird in diesem Roman bis in die geringsten Kleinigkeiten mit musterhafter Sorgfalt befolgt.

Neben diesen großen Schöpfungen hat unser Dichter sein Talent auch in dem engeren Rahmen einer nicht geringen Anzahl kleinerer Erzählungen bekundet, von denen die früheren, wie „Clara Vere“ und „Auf der Düne“, als poetische Federzeichnungen gelten können, während die späteren, wie „Röschen vom Hofe“, „Hans und Grete“, „Die Dorfcoquette“, an’s Genre der Dorfgeschichten streifen. Daneben hat Spielhagen auch auf dem Gebiete essayistischer Darstellung, namentlich bei der Ausführung literarischer Portraits und der Behandlung ästhetischer Fragen sich als ein Meister gezeigt, durch die Uebertragung amerikanischer Lyriker sich unter den deutschen Uebersetzungskünstlern einen Namen gemacht und endlich auch als Dramatiker theatralische Erfolge errungen, die den Dichter hoffentlich veranlassen werden, sein reiches Talent dauernd der deutschen Bühne zuzuwenden.

So hat sich Spielhagen unter Denen, welchen die Nation den Kranz flicht, durch die Größe seines ursprünglichen Talents, wie durch die liebevolle Hingabe an seine idealen Ziele eine erste Stelle errungen. Der einst wild gährende Most hat sich zu klarem, kräftigem Weine geläutert, an dem sich unsere Zeitgenossen wie die Nachwelt erquicken werden. Von schroffen Einseitigkeiten ausgehend, welche die strotzende Kraft seines Talents bekundeten, ist er, ohne jemals der Fahne echter Volkthümlichkeit untreu zu werden, zur Höhe harmonischer Kunstwerke gelangt, die den Stempel höchster Reife tragen. So heftig das Blut des Fortschritts auch in den Adern des Dichters pulsirt, so fest und unentwegt steht er trotzdem auf dem Boden des Vaterlandes, dem sein Segenswunsch, sein Wollen und Sehnen gehört.

Eugen Zabel.


Das Herz.
Ein freier Vortrag. Im „Wissenschaftlichen Verein“ (Sing-Akademie) in Berlin den 3. März 1877
gehalten von Professor Dr. M. Lazarus.

Es ist wohl nicht wahrscheinlich, daß eine Betrachtung über das Herz uns viel neue Belehrungen bieten kann; denn von jeher haben denkende Menschen Gelegenheit gehabt ihr Herz unmittelbar zu beobachten. Achtsame und erleuchtete Geister haben denn auch vielfache Beobachtungen und Belehrungen über diesen Gegenstand hinterlassen. Wir besitzen der Sprüche und Gedanken gar viele über das Herz, und glückliche Enkel genießen, was die fleißige Vorzeit gesammelt hat. Auf der andern Seite finden wir, daß neben Allem, was Tiefes und Bedeutsames über das menschliche Herz überliefert worden neben und in Allem, was Dichter und Denker darüber ausgesprochen, ein Gedanke gleichmäßig einhergeht, der Gedanke: das menschliche Herz ist unergründlich. Vom Worte des Propheten Jeremias. „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ bis herab auf Goethe, bei dem es heißt. „Es liegt um uns herum gar mancher Abgrund, den das Schicksal grub, doch hier in unserm Herzen liegt der tiefste“ - zwischen diesen beiden Worten könnte man Bände mit Aussprüchen füllen, welche alle das gemeinsam haben, daß sie das menschliche Herz für unergründlich erklären.

Und sollten wir dennoch den Versuch wagen, sollten wir angesichts dieser historischen Thatsache hoffen können, daß es uns dennoch gelingt das menschliche Herz zu ergründen?

Nein! nicht so hoch ist das Ziel dieser Stunde gestellt; vielmehr nur die Frage möchte ich Ihrer Aufmerksamkeit empfehlen, woher es kommt, daß das menschliche Herz unergründlich ist? Welches sind die Gründe, weshalb der Geist das mit ihm selbst

vereinigte Herz nicht ergründen kann? In wie fern und aus welcher

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 226. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_226.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)