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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


faßte ihre Hände und fragte bittenden Tones: „Liebes Herz, wie soll ich den Weg in diese Umzäunung von Mousselin und Pappe finden?“ und als sie in süßer Verwirrung die Bänder des Helgoländers löste und den Hut zurückschob, umschlang er sie, und sein Kuß brannte auf ihren Lippen. Dann erst reichte er Anna mit einem scherzenden Dankesworte die Hand. „Und nun rasch!“ wandte er sich zu Emilie um; „zwischen Lipp' und Bechersrand –“

Er kam nicht weiter, denn die kleine Anna that einen Schrei wie ein Mensch, der ein Gespenst sieht, und blickte nach dem Fenster. Es war nicht der Blitz, der eben Straße und Zimmer erhellte, was sie erschreckt hatte; die Thüren gingen auf und herein trat blaß und geisterhaft – Frau Hornemann.

Einen Augenblick war Alles still. Draußen plätscherte der Regen, und ein neuer Blitz mischte sich in den Donnerschlag des früheren. Es hätte nicht heimlicher zugehen können im Zimmer, wenn das himmlische Feuer die pochenden Herzen darinnen gelähmt hätte für immer. Dann barg die erschrockene Anna ihr Gesicht unter der Schürze, und der Doctor umfaßte die halb ohnmächtige Emilie und blickte zugleich mit Ingrimm und Ueberraschung auf die unerwartete Erscheinung. Er war nicht gewohnt, einer Verlegenheit zu unterliegen. „Ich vermuthe, Madame,“ sagte er rauh, „Sie sind gekommen, um Ihrer Tochter Lebewohl zu sagen. Vielleicht haben Sie gar ein Wort mütterlichen Segens für uns.“

Die alte Frau würdigte ihn keines Blickes. Sie ging auf die Gruppe zu, bis sie in das glühende Gesicht Emiliens sehen konnte, in welchem die Augen geschlossen waren, als ob sie leugnen wollten, was sie erblickt hatten. „Meine Tochter,“ sagte sie mit zitternder Stimme, „ich will Dich nicht hindern zu thun, was Dein Herz begehrt. Ich bitte Dich nur um Eines: mir auf eine Viertelstunde noch in Dein Vaterhaus zu folgen; ich habe Dir etwas zu sagen. Nachher steht es Dir frei wieder hierher zu gehen und zu vergessen, daß Du einst eine Mutter hattest.“

Das junge Mädchen richtete sich auf und sah den Doctor mit irren Augen an. „Laß mich gehen, Heinrich!“ sprach sie halblaut und wand sich von ihm los. „Ich komme wieder.“

„Meinethalben,“ meinte dieser. „Du kannst den Wagen benutzen, und ich erwarte Dich.“ Er legte die Hände auf dem Rücken zusammen und trat an das Fenster.

„Ich werde gehen,“ sagte Frau Hornemann. „Du kannst bis auf die Brücke fahren, meine Tochter.“

„Nein, Mutter, ich begleite Dich,“ entgegnete diese hastig.

„So komm!“ war die Antwort.

Beide verließen das Zimmer. Die alte Frau öffnete den Regenschirm, aber er schwankte in ihrer Hand und gewährte ihr und der neben ihr schreitenden Tochter wenig Schutz. Sie wanderten im Gewittergusse wie mechanisch den Weg, welcher von der anderen Seite auf den Canal führte, unmittelbar an den Steg und hinüber in das alte verschnörkelte Haus mit der Doppelthür. Ueber ihnen tobte das Wetter; im Canal schoß das Wasser in gelben Strudeln dahin, und es war ein Wunder, daß sie ohne Schwindel über den schlüpfrigen Steg gelangten.

In der Stube hinter den Laden saßen die beiden Frauen, und keine achtete es, daß das Regenwasser an ihren Kleidern hinunterfloß und kleine Wasserpfützen auf den Dielen bildete. Frau Hornemann hatte sofort nach ihrem Eintritt einen Schrank aufgeschlossen und Papiere durcheinander herausgeworfen, bis sie ein schmales blaues Buch gefunden, das sie auf den Tisch vor ihre Tochter gelegt. Dann erst hatte sie Platz genommen.

Sie strich ein paar Mal über ihr Gesicht, um die Tropfen davon zur wischen; es waren keine Thränentropfen, denn ihre Augen glühten trocken; es war von dem Regen, der es besprüht hatte.

„Meine Tochter, ich will Dir einen Theil von dem Geheimnisse unseres Lebens enthüllen, von dem ich zu Niemandem, selbst zu Karl nicht, gesprochen habe. Wir sind nicht wohlhabend zurückgeblieben, als Dein Vater starb, und Du sollst auch wissen, woran er starb: am gebrochenen Herzen. Ich sage Dir das wie alles Uebrige in der Hoffnung, daß Du es ebenso in Dir begraben wirst, wie ich es seither gethan. Freude soll man den Menschen offenbaren, aber den Jammer in sich verschließen. Dein Vater war ein guter Mann, aber schwach und nicht praktisch, und es gab einen Menschen, einen rothhaarigen Judas, den er irgendwo auf einer Reise kennen gelernt hatte und der sein Vertrauen zu erschleichen gewußt. Er brachte ihn mit, und es war vergebens, daß ich ihn warnte. Du weißt, daß wir eine kleine Wattenfabrik besaßen, und sie nährte uns gut, bis dieser Teufel in Menschengestalt unser Haus betrat. Er setzte Deinem Vater Ideen in den Kopf von Geschäftserweiterung und goldenen Bergen von Verdienst, bis ihn dieser in das Geschäft aufnahm, als Reisenden, wie ich Thörichte glaubte, in Wahrheit aber zugleich durch heimlichen Contract als Compagnon. Mir verbarg er das, denn er wußte, daß ich Alles gethan haben würde, um es zu verhindern, und er hatte auch später nicht den Muth, es mir zu gestehen, als wir dem Rande des Abgrundes zueilten. Anfangs mehrten sich die Bestellungen, dann ließen sie wieder nach. Und nun kam das Schreckliche. Das Ungeheuer muß schon bald begonnen haben, unterwegs unsere Gelder zu vergeuden, die er von Kunden erhob, und andere, welche er bei Bankhäusern gegen Wechsel auf unser Geschäft entnahm. Da kam er eines Tages hier an und redete von einer wunderbaren Erfindung, von Maschinen, welche das feinste Product in erstaunlich kurzer Zeit liefern sollten. Ich bat Deinen Vater fußfällig, mit Thränen – damals konnte ich noch weinen, meine Tochter – sich nicht auf solche Wagnisse einzulassen, aber der Gleißner behielt Recht, als er von dem beschränkten Mißtrauen der Weiber gegen Neuerungen sprach. Die Maschinen kamen, und sie kosteten enormes Geld, und selbst Dein Vater mußte bald eingestehen, daß sie nicht viel mehr werth waren als unsere alten. Wie es zuging, daß nun die Kunden zusehends abnahmen – ich weiß es nicht. Der Segen war von uns gewichen. Nur aus des Vaters sorgenvollem Gesicht habe ich gemerkt, daß ihm die furchtbaren Wechsel zugegangen waren, welche unseren Ruin bedeuteten. Der saubere Compagnon war auf einer Reise verschwunden, unser Vermögen erschöpft; vergebens versuchten wir einen eingeschränkten Betrieb und legten selber mit Hand an in der Fabrik. Da kränkelte Dein Vater, und es nahm ein rasches Ende mit ihm. Jener Mensch“ – und die alte Frau schrie und schlug in ausbrechender Leidenschaftlichkeit mit der Faust auf den Tisch – „jener Mensch hat ihn gemordet. Und kaum war Dein Vater todt, meine Tochter, da kamen noch eine Zahl von Wechseln zum Vorschein, welche eine himmelschreiende Summe von Schulden bezeichneten, die ich – ich zahlen sollte.“

Die Sprecherin schwieg einen Moment und zerdrückte das Taschentuch in ihrer Hand, während sie zu überlegen schien, wie sie das Weitere ausdrücken sollte.

„Die Wechsel waren in der Hand eines Mannes – der mich haßte, der sie benutzt hat, um mich zu demüthigen, so tief, so jammervoll –“ die Stimme der alten Frau versagte, und sie hielt sich eine Weile die Augen zu und murmelte: „ich kann es nicht sagen; ich bringe es nicht über die Lippen. – Ich habe alles erduldet, um Euere Ehre vor der Welt zu retten,“ fuhr sie endlich fort; „ich durfte den Erlös für die Maschinen behalten, um ein kleines Geschäft anzufangen, und unser Unglück blieb Geheimniß, selbst für Deinen Bruder, der damals schon herangewachsen war. Er hat nie begreifen können, warum ich mich immer geweigert habe, das Rechnungswesen an ihn abzugeben. Er wußte nicht und sollte es nie erfahren, daß ich alle Ersparnisse hinwegtrug, um den heimlichen Flecken von unserm Namen zu tilgen. Mit meiner Kraft wollte ich uns rein waschen. Und was ich nebenbei auf mich genommen habe, das weiß, außer meinem Peiniger, nur Gott und ich; die Peitschenhiebe, die den Rücken eines armen Sclaven zerfleischen, sind eine Wohlthat dagegen. Manches Jahr ziehe ich in diesem Joche; mein Haar ist grau geworden, mein Sinn versteinert; sich habe mich an Herzweh und schlaflose Nächte gewöhnt, und doch ist es so wenig, was ich mit meinen Opfern erreicht habe, und ich muß dieses elende Dasein weiter leben, bis es verlischt. Eine Hoffnung hatte ich, eine einzige. Du hast vielleicht gewähnt, ich sei eine eigensinnige, herzlose alte Frau, daß ich darauf bestand, Franz Zehren solle Dein Gatte werden. Ich habe aber dabei an das Eine gedacht: daß er die Mittel besitzt, mir den Frieden zu geben, und daß er um Deinetwillen jedes Opfer bringen würde. Es war eigennützig von mir, aber – ich kann nicht anders.“

Frau Hornemann war mit ihren Eröffnungen zu Ende und trocknete sich die Stirn. Mit dumpfer Stimme, die nur

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