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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877)


ebenfalls nur während der Paroxysmen, nie in der freien Zeit zwischen denselben, und ohne daß die Kranken von dieser ihrer gesteigerten geistigen Thätigkeit gewußt hätten.

So wissen wir von einer Kranken, die im vierten Stocke eines Hauses untergebracht war und stets in demselben Augenblicke, wenn der behandelnde Arzt unten das Haus betrat, oben zu ihrer Umgebung sagte: „Jetzt kommt der Arzt.“ Letzterer wollte um jeden Preis das Zustandekommen dieses räthselhaften Vorganges ergründen; er dachte, die Kranke habe sich die Zeit seines Kommens gemerkt, und wechselte die Stunde seines Besuches – umsonst! Da die Kranke auch sonst in ihren Paroxysmen sehr scharf hörte, dachte er, der rollende Wagen verrathe seine Ankunft, und kam stets zu Fuße – vergebens! Die im Bette liegende Kranke kündigte ihn oben an, nachdem er die ersten Stufen der ersten Treppe erstiegen hatte. Endlich zog er beim Eintritte in das Haus die Schuhe aus und ging in Strümpfen die Treppen hinauf, und von da ab hörten die Prophezeiungen mit einem Schlage auf. Die Kranke hatte mit Hülfe ihres durch ihr Leiden enorm geschärften Gehöres den vier Stock niedriger erschallenden Tritt des Arztes erkannt.

In andern Fällen sind die rein geistigen Vorgänge, die Erinnerung, das Gedächtniß, die Vorstellungs-, Urtheils- und Combinationskraft ebenso erheblich gesteigert, wie bei den soeben beschriebenen Kranken das Muskelgefühl und das Gehör, aber immer nur während der Anfälle, nie außer der Zeit derselben, und immer derart, daß die Kranken ihrer Umgebung bei vollem Bewußtsein scheinen, während sie selbst keine Ahnung von dem haben, was sie thun. So hat man Leute aus den ungebildeten Ständen beobachtet, die während ihrer Anfälle Gedichte und Lieder – oft mit großem, ihnen sonst gar nicht geläufigem Pathos – hersagten, welche sie lange Zeit vorher gehört und in ihrem gesunden Leben vollständig vergessen hatten, Andere, die in ihrem krankhaften Zustande Gedichte machten, wozu sie sonst nicht befähigt waren, Leute, die sich plötzlich fremder Sprachen wieder erinnerten und bedienten, die sie in ihrer Jugend gelernt und seitdem ganz vergessen hatten.

Wir kennen also eine Krankheit, die sich dadurch auszeichnet, daß sie die Geistesthätigkeit der von ihr befallenen Individuen in so hohem Grade steigert, daß die Kranken ein ganz anderes, höheres Leben zu führen scheinen. Die Empfindlichkeit der Haut und das Muskelgefühl ist sehr erhöht; die Sinne und die Urtheilskraft sind in einem hohen Grade geschärft, das Erinnerungs- und Vorstellungsvermögen ist in einem Maße vorhanden, wie es im gesunden Zustande bei denselben Individuen nie auftritt, und damit ist das Zustandekommen all der Wunderdinge erklärt, die wir bei (ehrlichen, wirklichen) Somnambulen, Nachtwandlern, Hellsehern u. dergl. zu beobachten Gelegenheit haben. Wir wissen, daß diese Krankheit vorwiegend bei Frauen auftritt, da das schöne Geschlecht bekanntlich weniger im Stande ist, durch den logischen Gedanken die Irrfahrten der Phantasie zu zügeln, unter den Frauen namentlich bei solchen, die bleichsüchtig sind und deren Phantasie auf Kosten des logischen Denkens entwickelt ist. Wir wissen ferner, daß auch das Beispiel sehr viel zur Entstehung der Krankheit beiträgt; man sprach früher sogar von einem „psychischen Contagium“. Wir brauchen zur Constatirung dieser „geistigen Ansteckungskraft“ nur die mittelalterliche „Tanzwuth“ zu nennen, welche ganze Städte ergriff, die wahren Epidemien von allerlei nervösen Krankheiten, welche in Mädchen-Pensionaten beobachtet wurden, in denen eine Schülerin hysterisch oder sonstwie nervös erkrankte, und die bekannte Thatsache endlich, daß eine ganze Gesellschaft zu gähnen beginnt, sobald ein Mitglied derselben den Reigen eröffnet.

Wie bei allen nervösen Krankheiten beobachten wir auch beim großen Veitstanze nur selten die ganz reinen Formen, sondern finden in denselben meistens auch Complicationen mit andern nervösen Erkrankungen, namentlich mit der Hysterie, die sich vor Allem dadurch von der Chorea major unterscheidet, daß die Kranken sich dessen, was sie thun, bewußt sind. In solchen Fällen nun, die gleichsam in der Mitte zwischen großem Veitstanze und Hysterie liegen, finden wir bedeutende Steigerungen der körperlichen und geistigen Fähigkeiten (daneben allerlei Störungen innerhalb des großen, den ganzen Organismus umfassenden Nervengebietes), bei ganz aufgehobenem, oder nur verdunkeltem, oder endlich ganz freiem Bewußtsein – in allen diesen drei Fällen aber scheint letzteres in den Augen der Umgebung vollkommen vorhanden zu sein. Es ist dies das unterscheidende Kennzeichen von andern nervösen Erkrankungen (Katalepsie, Epilepsie), bei denen die Kranken das Bewußtsein ebenfalls verlieren, es aber auch für die Umgebung sofort sichtbar verloren haben.

Wenn wir nun die hervorragenden Leistungen der wirklich ehrlichen und an ihren höhern Beruf glaubenden Medien näher betrachten, diese Leistungen, welche in der That die gewöhnliche geistige Capacität des Betreffenden weit überragen, so sind wir in der Lage, dieselben nicht mehr überirdischen Wesen zuschreiben zu müssen, sondern können sie uns auf rein wissenschaftlichem Wege viel natürlicher erklären: Die „mediale Kraft“ ist nichts weiter als ein Anfall von großem Veitstanze in reiner oder mit Hysterie und sonstigen nervösen Erscheinungen complicirter Form. Die Steigerung der geistigen Fähigkeiten bis zu einem überirdisch erscheinenden Grade ist nichts Anderes als ein hervorragendes Symptom dieser der medicinischen Welt wohlbekannten Erkrankung; daß das Medium von dem, was es schreibt, oder in seinem somnambulen Zustande spricht, singt oder sonstwie vollführt, nichts weiß, daß es ihm selbst scheint, als gingen alle diese Manifestationen nicht von ihm, sondern von einem andern Wesen aus, dürfen wir ihm auf's Wort glauben; daß die Umgebung von den das Normale so weit übersteigenden Leistungen frappirt ist und „Wunder zu rufen beginnt, ist ebenfalls sehr leicht erklärlich. Auch das „Erwerben der medialen Kraft“, richtig: die Erkrankung an Chorea major, ist auf Grund der oben kurz erwähnten Ursachen dieser Krankheit leicht zu verstehen: Es lernt Jemand den Spiritismus in seiner schwindelhaften oder krankhaften Gestalt kennen, ohne daß ihm aber diese beiden Grundeigenschaften zum Bewußtsein kommen; die Sache interessirt ihn; er liest den „Zauberstab“, die vielen Werke von Allan Kardec und Andern; er kommt in spiritistische Gesellschaft, und stets neue Proben von der Wunderkraft der Geister werden ihm zu Theil; eine rationelle Erklärung des Spiritismus ist ihm unbekannt, und mit der vornehmen Abfertigung: „Es ist Alles Schwindel“ kann er sich, als in der That nicht zutreffend, nicht begnügen. Seine Phantasie ist erhitzt (und ich gestehe, daß ich selbst nur mit größter Mühe dem sinnverwirrenden Einflusse der spiritistischen Literatur widerstehen konnte, als ich dieselbe zum Zwecke eingehenderer Studien über diese interessante Frage durchnahm), und nicht nur seine Phantasie wird erregt, sondern auch sein ethisches, sittliches Gefühl, sein moralisches Denken, denn die Spiritisten lehren eine neue Religion, die alle Menschen unter dem Schutze Gottes, ohne Unterschied des Bekenntnisses, umfaßt (ich mache darauf aufmerksam, daß ich von den ehrlichen und gebildeten Spiritisten spreche); er giebt sich dieser Lehre um so eher und lieber hin, als er in der Confessionalität seiner ererbten Religion eine die Ethik verletzende Schranke erblickt und eine auf rein logischer Grundlage, auf nur vernunftgemäßem Denken beruhende ethische Sittenlehre heute noch nicht bekannt ist; er zweifelt nach allen Richtungen hin an der Berechtigung seiner bisherigen Denkweise, und da er sich und seinen eigenen Erlebnissen mehr zu trauen berechtigt ist, als denen Anderer, so versucht er, ob er nicht durch eigene Erwerbung der „medialen Kraft“ allen seinen Zweifeln ein Ende machen könnte – er hegt den lebhaftesten Wunsch, selbst Medium zu werden.

Das kann er nur, wenn er die zu diesem Behufe von den Geistern getroffenen Anordnungen befolgt. Er schließt sich also täglich eine Stunde ein, „erhebt seine Seele zu Gott“, verbannt alle andern Gedanken aus seinem Geiste und concentrirt sein ganzes Dichten und Trachten auf den einen Wunsch: den Geistern als Mittelsperson zu dienen. Ist es ein Wunder, wenn nach solchen wochen- und monatelang fortgesetzten Uebungen der Betreffende die Annäherung der Geister zu verspüren meint? Wahrlich nicht!

Wenn wir nunmehr den Spiritismus in seiner Gesammtheit betrachten, so finden wir in den ihn vermittelnden Medien folgende Classen vertreten:

Erstens: einfache Betrüger, die den Schwindel mit vollem Bewußtsein in Scene setzen, um Geld oder Anerkennung und eine gewisse Wichtigkeit zu erringen.

Zweitens: rein hysterische Personen, die sich des Schwindels zum Theile nur bewußt sind und ihn in Folge einer krankhaften Anregung verüben, der sie nicht widerstehen können und welche die Hysterie so scharf charakterisirt, und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1877). Leipzig: Ernst Keil, 1877, Seite 99. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1877)_099.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)