Seite:Die Gartenlaube (1876) 535.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


kann diese so beliebte Dichtungsform nicht verwendet werden, als es hier geschehen, um dem durch die Mißerfolge von 1848 und 1849 so tief gesunkenen Selbstvertrauen des deutschen Volkes neuen Aufschwung zu geben. Gutzkow rollt in dem „Nebeneinander“ dieses Romans ein Bild vor dem deutschen Volke auf, welches, wo es mit Ernst betrachtet wird, in dem stillen Kreise der Familien die Hoffnung auf endliches Gelingen der nationalen Wünsche und Bestrebungen nicht untergehen lassen kann.

Daß zur dauernden Herstellung der Freiheit, wie sie unser deutsches Volk zur Erfüllung seiner politischen und culturgeschichtlichen Mission bedarf, auch die Befreiung seines religiösen Denkens und Lebens von aller Menschenknechtschaft, einheimischer wie ausländischer, unentbehrlich ist, ist eine Grundüberzeugung, die seit Lessing kein deutscher Dichter gewaltiger und eindringlicher verkündigt hat als Gutzkow. Obschon er dem amtlichen Kirchendienste entsagen mußte, weil es ihm unmöglich war, das Licht seines Genius unter den Scheffel kirchlicher Satzungen zu stellen, ist ihm doch die religiöse Bildung des deutschen Volkes nie gleichgültig gewesen. Er hat unablässig mit gekämpft, aber auch mit geduldet, um den deutschen Geist von einer Bevormundung zu befreien, die ihm schon so viel Verderben gebracht hat. Die Vielseitigkeit seiner Bildung, die reiche Lebenserfahrung, die tiefe Menschenkenntniß und die mannigfachen Drangsalirungen, mit welchen ihn die orthodox-pietistische Reactionspartei bedacht hat, haben dichterische Schöpfungen in ihm zur Reife gebracht, welche in unserer Literatur einzig dastehen.

In den „Denksprüchen vom Baum der Erkenntniß“ hat Gutzkow seinen religiösen Standpunkt klargelegt. Es ist in Betreff des Streites zwischen Wissenschaft und Glauben der Standpunkt aufrichtigster Versöhnung. Zwischen wahrem Glauben und wahrer Wissenschaft kennt Gutzkow keinen principiellen Widerspruch. Die Naturwissenschaft kann die Religion nicht zerstören, da die Natur selbst göttlich ist. Es bedarf nur des Eindringens in ihr Heiligthum. Die Ursache des Kampfes zwischen Wissenschaft und Glauben liegt vorzüglich in dem Hochmuth der „Gläubigen“. Deshalb giebt Gutzkow die goldene Regel: „Suche dich auszuzeichnen und hervorzutreten mit allen Regungen und Schwingungen deiner Seele, nicht nur mit denen, die dich gen Himmel tragen sollen!“

Es giebt in der gesammten Literatur kein Drama, welches so geistvoll, so erheiternd und zugleich mit solcher durchschlagenden Schärfe dem Publicum die sittliche Verwerflichkeit und politische Gefährlichkeit des politisirenden Pietismus vor die Augen stellte, wie das im Sommer 1844 geschriebene Lustspiel: „Das Urbild des Tartüffe“. Die Zustände, welche damals in Deutschland und Oesterreich sich unter dem Einfluß des Pietismus und Jesuitismus zur Reife entwickelten, der Druck, den sie auf Wissenschaft, Kunst und das gesammte Volksleben übten, riefen den Dichter auf den Kampfplatz, und obschon mannigfach chicanirt, hat er doch gewaltige Triumphe damit errungen. Wem sollten auch nicht die Augen aufgehen über den unsittlichen Charakter einer auf Schleichwegen die Herrschaft in Staat und Kirche suchenden Frömmigkeit, wenn er den Präsidenten La Roquette, die so meisterhaft durchgeführte Titelrolle, seinen solchen Einflüssen so leicht zugänglichen König Ludwig den Vierzehnten von allen Seiten bearbeiten sieht, bis er hoffen kann, die Freiheit der Dichtkunst vernichten zu dürfen? Am Schluß des Stückes sagt König Ludwig der Vierzehnte: „La Roquette, das also sind die Frommen, die Frankreich und mich beherrschen wollten? Sie, das Urbild des Tartüffe, suchen Sie nie wieder die Nähe eines Fürsten auf, der für immer vom Ruder des Staates den Heuchler verbannt“, und wenn der Vorhang fällt, ruft der entlarvte, gestürzte, aber nicht gebesserte Heuchler aus: „Verjagen kann man uns wie die Wölfe, aber wie die Füchse kommen wir wieder. … Ich trete in den Orden der Jesuiten.“ Welcher Deutsche sollte sich angesichts solchen Intriguenspiels des Pietismus nicht zu dem Entschlusse erheben, demselben mit allen gesetzlichen und moralischen Mitteln entgegenzuwirken?

Zwei Jahre später folgte das Trauerspiel „Uriel Acosta“. Es wurde 1846 bei einem Frühlingsaufenthalte in Paris gedichtet. An einem Beispiele aus der Synagoge zeigt es den christlichen Völkern, daß nur unter dem Sonnenscheine der freien Wissenschaft und am frischen Quell persönlicher Ueberzeugung wahre Sittlichkeit und echte Menschenbildung gedeihe, während jedes hierarchische System sowohl das Glück der Einzelnen wie der Familien und Gemeinden zerstöre. Das Stück wurde schnell verbreitet und bald in die meisten Sprachen Europas übersetzt. Es erwies sich als ein Witterungsbarometer für die öffentlichen Zustände. Nahm die kirchliche Reaction zu, so mußten die Bühnen ihm verschlossen werden; trat ein Systemwechsel ein, so durfte man „Uriel Acosta“ wieder aufführen. Das österreichische Concordat hatte ihm lange das Wiener Burgtheater verschlossen, während die Theater in den Provinzen sich es nicht nehmen ließen. Es ist ein Zugstück von der ergreifendsten Wirkung. Es hat Scenen, die kein Herz ungerührt oder unerschüttert lassen. Wenn man auch dem Helden des Stückes einen andern Ausgang wünschen möchte als den durch Selbstmord, so ist doch der Eindruck, welchen diese Darstellung orthodoxer Gewissenstyrannei hinterläßt, so überwältigend, daß es wohl begreiflich ist, warum christliche Hierarchen das Stück für gefährlich erklären.

Aber Gutzkow hat es bei solchen Gemüthserschütterungen, wie sie die Bühne hervorzubringen vermag, nicht bewenden lassen, um dem Geiste der Wahrheit und der Freiheit Bahn zu brechen. Durch die detaillirten Lebensschilderungen, welche er in seinen größeren Romanen mit ebenso großer Treue wie Kunst dem deutschen Publicum zu stillerer Betrachtung vorlegte, suchte er zu einem immer ernsteren Nachdenken nicht blos über die politischen und socialen, sondern auch über die religiösen Aufgaben unseres Volkes anzuregen, und nicht blos negativ und oppositionell gegen das kirchlich-politische Reactionssystem zu wirken, sondern vielmehr zu einer positiven Erneuerung des religiösen und kirchlichen Lebens aufzurufen. Wenn auch Romane nie ausreichen werden, diese große Aufgabe zu lösen, so kann es doch keine preiswürdigere Verwendung dieser so viel nur zum werthlosesten Zeitvertreibe mißbrauchten Dichtungsform geben, als wenn solche ideale Zwecke mit ihr verbunden werden. Der Kunst wird überhaupt kein Eintrag gethan wenn sie idealen Zwecken dient; die Dichtkunst aber sinkt ohne sie zur Unnatur herab.

Schon in den „Rittern vom Geist“ hat Gutzkow auf die Nothwendigkeit der Vereinfachung und Verinnerlichung der Religion hingewiesen. Noch ausführlicher und eindringlicher hat er dieses gethan in dem „Zauberer von Rom“, der im Jahre 1858 jenem mit außerordentlichem Beifalle aufgenommenen Romane nachfolgte. Sicher würde der uns nun seit einigen Jahren in fortwährender Aufregung erhaltende sogenannte Culturkampf zum Siege der wahren Cultur ausschlagen, wenn die große Idee von einer brüderlichen Vereinigung der Protestanten und Katholiken innerhalb des deutschen Reiches in den Gemüthern Raum gewänne und wenn die christlichen Priester zu der Einsicht kämen, daß ohne innere Religiosität und aufrichtige Ueberzeugung von der christlichen Wahrheit eine segensreiche Wirksamkeit für die Kirche unmöglich ist.

Auch die andern Romane, der Erziehungsroman „Die Söhne Pestalozzi’s“ und die culturgeschichtlichen Romane „Hohenschwangau“ und „Fritz Ellrodt“ haben durch die historische Grundlage, auf der sie ruhen, einen reichen Bildungsstoff für den Geist.

Durch die „Schiller-Stiftung“, welche vorzüglich Gutzkow in’s Leben gerufen, hat er sich ein bleibendes Verdienst um alle deutschen Schriftsteller erworben, die würdig sind, in ihren alten Tagen in ein nationales Prytaneum aufgenommen zu werden. Auch Gutzkow zählt zu ihren Pensionären. Die mäßige Unterstützung, welche diese Stiftung darreicht, würde ihn jedoch den drückenden Sorgen nicht überheben, wenn nicht das literarische Eigenthumsgesetz des Reichstages und die hochherzige rückwirkende Deutung, die demselben einige Bühnenvorstände gegeben haben, mitwirkten, daß seine verdienstvollen Arbeiten ihm auch fort und fort ihre Früchte tragen.

„Dem Verdienste seine Kronen!“ Möge dieser Wunsch Schiller’s auch an dem Schöpfer der Schiller-Stiftung in vollem Maße in Erfüllung gehen!


Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 535. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_535.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)