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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876)


„Ja wohl! Ich werde die Anderen sogleich aufsuchen.“ Waldemar machte eine hastige Bewegung nach der Thür, aber die Mutter legte ihre Hand auf seinen Arm.

„Zuerst möchte ich Dich für einige Minuten in Anspruch nehmen. Ich habe etwas Wichtiges mit Dir zu besprechen.“

„Kann das nicht später geschehen?“ fragte Waldemar ungeduldig. „Ich möchte doch vorher –“

„Es liegt mir daran, Dich allein zu sprechen,“ unterbrach ihn die Fürstin. „Du kommst noch immer zeitig genug zu der Partie. Ihr werdet sie wohl um eine Viertelstunde verschieben können.“

Der junge Nordeck sah bei dieser Zumuthung äußerst unzufrieden aus und folgte nur mit offenbarem Widerstreben der Einladung zum Niedersitzen. Von Aufmerksamkeit schien bei ihm vorläufig keine Rede zu sein, denn sein Blick schweifte fortwährend durch das Fenster, in dessen Nähe er saß und das nach dem Strande hinausging.

„Unser Aufenthalt in C. naht sich seinem Ende,“ begann die Fürstin. „Wir werden wohl bald an die Abreise denken müssen.“

Waldemar machte eine Bewegung, die fast Schrecken verrieth. „Schon jetzt? Der September verspricht ja schön zu werden; weshalb willst Du ihn nicht hier verleben?“

„Das kann ich Wanda’s wegen nicht. Ich kann meinem Bruder nicht eine noch längere Trennung von seinem Lieblinge zumuthen. Er hat schon ungern und nur auf meinen besonderen Wunsch in ihr Hierbleiben gewilligt, dafür habe ich ihm aber auch versprochen, sie selbst nach Rakowicz zu bringen.“

„Rakowicz liegt ja wohl nicht weit von Wilicza?“ fragte Waldemar rasch.

„Nur eine Stunde entfernt, etwa halb so weit, wie Altenhof von hier.“

Der junge Mann schwieg; er sah wieder angelegentlich durch das Fenster. Der Strand schien ihn heute außerordentlich zu interessiren.

„Da wir gerade von Wilicza sprechen,“ warf die Fürstin leicht hin, „Du wirst doch jetzt, nach erreichter Mündigkeit, Deine Güter selbst antreten? Wann gedenkst Du dorthin zu gehen?“

„Es war anfangs für nächstes Frühjahr bestimmt,“ sagte Waldemar zerstreut und immer mit seinen Beobachtungen beschäftigt. „Ich wollte den Winter über noch bei dem Onkel bleiben. Das wird sich aber jetzt wohl ändern, da ich beabsichtige, auf die Universität zu gehen.“

Die Mutter neigte zustimmend das Haupt. „Das ist ein Entschluß, dem ich nur meinen vollen Beifall geben kann. Ich habe Dir nie verhehlt, daß ich die vorwiegend praktische Erziehung bei Deinem Vormunde zu einseitig fand. Für eine Stellung, wie die Deinige, ist eine höhere Ausbildung unerläßlich.“

„Ich möchte vorher aber Wilicza gern einmal sehen,“ lenkte Waldemar ein. „Ich war seit meinen Knabenjahren nicht dort, und – und Du bleibst doch jedenfalls längere Zeit in Rakowicz?“

„Ich weiß es nicht,“ erwiderte die Fürstin. „Für den Augenblick werde ich allerdings die Zuflucht annehmen, die mein Bruder mir und meinem Sohne bietet. Es wird sich ja zeigen, ob wir seine Großmuth dauernd in Anspruch nehmen müssen.“

Der junge Nordeck sah auf. „Zuflucht – Großmuth – was soll das heißen Mutter?“

Die Lippen der Fürstin zeigten ein leises nervöses Zucken das einzige Zeichen, wie schwer ihr der Schritt wurde, den sie zu thun im Begriffe stand, sonst schien sie völlig unbewegt, als sie antwortete:

„Ich habe der Welt bisher unsere Verhältnisse verborgen und gedenke das auch ferner zu thun. Dir kann und will ich kein Geheimniß daraus machen. Ja, ich bin gezwungen, bei meinem Bruder eine Zuflucht zu suchen. Du kennst ungefähr die äußeren Ereignisse während meiner zweiten Ehe. Ich habe an der Seite meines Gemahls gestanden, als die Stürme der Revolution ihn fortrissen; ich bin ihm in die Verbannung gefolgt und habe fast zehn Jahre lang das Exil mit ihm getheilt. Unser Vermögen ist dem allem zum Opfer gefallen; schon die letzten Jahre zeigten einen unlösbaren Widerspruch zwischen den Ansprüchen unserer Stellung und den Mitteln, die uns zu Gebote standen. Ein kurzer Ueberblick unserer Angelegenheiten nach dem Tode des Fürsten hat mir gezeigt, daß ich auch diesen Kampf aufgeben muß – wir sind zu Ende mit unseren Hülfsquellen.“

Waldemar wollte sprechen; die Mutter hob abwehrend die Hand.

„Du begreifst, was es mich kostet, Dir diese Eröffnungen zu machen, und daß ich sie Dir nie gemacht hätte, wenn es sich nur um mich allein handelte, aber ich habe als Mutter meinen Sohn zu vertreten – da schwindet jede andere Rücksicht. Leo steht erst im Anfange seines Lebens und Werdens; ich fürchte nicht die Entbehrungen der Armuth für ihn, aber ich fürchte ihre Demüthigungen, denn ich weiß, daß er sie nicht erträgt. Dir hat das Geschick Reichthümer zugesprochen; Dir steht von jetzt an die unbeschränkte Verfügung darüber zu – Waldemar, ich übergebe die Zukunft Deines Bruders Deinem Edelmuth.“

Es wäre für jede Andere eine furchtbare Demüthigung gewesen, den Sohn des Mannes, von dem sie sich mit Haß und Verachtung losgerissen, um Hülfe anzuflehen, aber diesem Frau wußte die Demüthigung in einer Weise zu tragen, die ihr alles Erniedrigende nahm und ihrem eigenen Stolze auch nicht den geringsten Abbruch that. Die Haltung, mit der sie vor dem Sohne stand, war nicht die einer Bittenden. Sie appellirte nicht an ein Kindesgefühl, an eine Zärtlichkeit, die, wie sie wußte, nicht existirten. Die Mutter mit ihren Rechten trat für den Augenblick vollständig zurück; sie machte keins davon geltend, aber sie forderte von dem Gerechtigkeitsgefühle des älteren Bruders, daß er sich des jüngeren annehme, und es zeigte sich, daß sie Waldemar richtig berurtheilt hatte. Er fuhr lebhaft auf:

„Und das sagst Du mir erst jetzt, erst heute? Weshalb erfuhr ich nicht früher davon?“

Der Blick der Fürstin begegnete fest und ernst dem seinigen. „Was würdest Du mir wohl geantwortet haben, wenn ich Dir bei unserem ersten Wiedersehen eine solche Eröffnung gemacht hätte?“

Waldemar sah zu Boden, er erinnerte sich noch sehr gut der verletzenden Art, mit der er die Mutter damals gefragt, was sie eigentlich von ihm wolle.

„Du verkennst mich,“ erwiderte er hastig. „Ich hätte trotzdem nie zugegeben, daß Du mit Leo bei einem Anderen Hülfe suchst, als bei mir. Ich wäre Herr von Wilicza und sollte dulden, daß meine Mutter und mein Bruder in Abhängigkeit leben! – Du verkennst mich, Mutter, dieses Mißtrauen habe ich nicht verdient.“

„Ich hegte es auch nicht gegen Dich, mein Sohn, nur gegen den Einfluß, der Dich bisher geleitet hat, und vielleicht noch leitet. Weiß ich doch nicht einmal, ob er Dir gestatten wird, uns ein Asyl zu bieten.“

Das war wieder der Stachel, der seine Wirkung nie verfehlte, und den die Mutter stets im rechten Augenblicke einzusetzen verstand. Er blieb auch heute nicht ohne Einfluß auf den jungen Mann.

„Ich glaube Dir gezeigt zu haben, daß ich meine Selbstständigkeit zu wahren weiß,“ entgegnete er kurz. „Und nun sage mir, was ich thun soll! Ich bin zu Allem bereit.“

Die Fürstin wußte, daß sie jetzt ein Wagniß unternahm, aber sie ging fest und unbeirrt auf ihr Ziel los.

„Wir können Deine Hülfe nur in einer Form annehmen, wenn sie uns nicht zur Demüthigung werden soll,“ sagte sie. „Du bist der Herr von Wilicza – wäre es nicht das Natürlichste, wenn Mutter und Bruder dort Deine Gäste sind?“

Waldemar stutzte. Bei dem Namen Wilicza bäumten sich der alte Argwohn und das alte Mißtrauen wieder jäh empor. All die Warnungen des Pflegevaters vor den Plänen der Mutter tauchten wieder auf; die Fürstin sah das, aber sie wußte es meisterhaft zu pariren.

„Mir wäre der Ort nur wegen der Nähe von Rakowicz erwünscht,“ warf sie mit gleichgültiger Miene hin. „Ich könnte dann in unbeschränktem Verkehr mit Wanda bleiben.“

Die Nähe von Rakowicz! Der unbeschränkte Verkehr mit seinen Bewohnern! Das entschied alles. Die Wangen des jungen Mannes flammten, als er erwiderte:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1876). Leipzig: Ernst Keil, 1876, Seite 499. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1876)_499.jpg&oldid=- (Version vom 12.5.2019)