Seite:Die Gartenlaube (1875) 820.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Die Redeck.
Eine Schwarzwaldskizze.


Wir saßen am Frühstückstische in dem großen bäuerlichen Wirthshause ‚Zur Traube‘ zu Waldau bei Freiburg, etwa ein Dutzend Gäste; die riesige Kaffeekanne ging von Hand zu Hand, wie es dort so Brauch war, und die ebenso große Milchkanne folgte hinterher. Den auserlesenen Erzeugnissen des Schwarzwaldes, Butter und Honig, wurde eifrig zugesprochen, und es herrschte jene frische, harmlos heitere Stimmung, in welcher sich – zumal an einem hellen Sommermorgen – Menschen zu befinden pflegen, die auf einige Wochen den Staub des Alltagslebens von sich geschüttelt haben, um in der reinen Bergesluft frei aufzuathmen und neue Lebenskraft zu schöpfen.

Da ging die Thür auf, und herein trat eine silberhaarige Alte, den hohen, cylinderförmigen Strohhut auf dem Kopfe, einen Stock in der Hand. Ihr scharfes Auge streifte grüßend die Gesellschaft, und „Oh! grüß’ Gott, Herr Lehrer!“ rief sie freudig überrascht aus, als einer der Herren aufstand, um sie zu bewillkommnen.

„Das ist die Marei, die Redecker Marei,“ ging es von Mund zu Mund – offenbar eine bekannte und in ihrem Kreise berühmte Persönlichkeit, von der ich aber noch Nichts gehört hatte.

„Sie ist dreiundachtzig Jahre alt,“ hieß es, und ich staunte über die Lebhaftigkeit der Frau, die sich in lauter Scherzreden zu gefallen schien, offenbar stolz war auf die hohe Zahl ihrer Jahre und sich beschwerte, daß kein Freier mehr kommen wolle, obwohl sie nun schon seit Jahren Wittwe sei.

Der Lehrer – um diese Bezeichnung festzuhalten – erkundigte sich, ob sie auch noch die Harfe spiele.

„Nimmer so recht,“ entgegnete Marei, „aber meine Tochter spielt und singt und meine Enkelin auch; im Winter machen wir viel Musik, im Sommer nur so, um’s halt nit zu vergessen.“

„Und Sie selbst spielen gar nicht?“

„Ja freilich! ich spiel’ die ‚Vigelin‘.“

„Werden Sie mir denn Etwas vorspielen, wenn ich einmal hinkomme?“

„Ja, ja, kommen’s nur! Ich spiel’, wenn Sie mir die Vigelin stimmen wollen, und meine Tochter und meine Enkelin werden auch spielen und singen.“

Nach dieser Verabredung setzte Marei sich still an einen entfernten Tisch in dem großen, niedrigen Saale, bestellte ein halbes Liter Weißwein und zog ein Stück trockenen Brodes aus der Tasche. Sie war in der Waldauer Kirche gewesen, und es hieß, sie mache fast täglich diesen Weg, drei Viertelstunden weit über Berg und Thal. Keineswegs aber kehrte sie jedes Mal in der „Traube“ ein; ich sah sie nicht wieder dort, und was sie diesmal hergeführt hatte, war vielleicht nur die Neugier gewesen, ein wenig von der großen Fluth der reisenden Welt zu sehen, die ein kleines Bruchtheil an diesen wirthlichen Strand geworfen.

Hatte sie doch selber einmal mitten in diesem Strome geschwommen. Reisen und Wandern, Singen und Spielen war ihr Handwerk gewesen, und zwar zu einer Zeit, wo das Reisen noch im Stande war, dem Menschen eine Art von Nimbus zu verleihen, besonders einem Schwarzwälder Mädele, das mit fünfzehn Jahren abenteuernd in die Welt zog. Aber nicht sowohl Abenteuerlust, als vielmehr die Noth ist es gewesen, welche das Kind aus der elterlichen Hütte führte. Der Geschwister waren viele; das Häuschen war schuldenbelastet, und nur eine Kuh befand sich im Stalle.

„Ich will es versuchen – laßt mich ziehen!“ sprach Marei, und „So geh’ in aller Heiligen Namen!“ erwiderte die Mutter – und sie ging.

Eine alte Geige hatte sie vom Vater her; die konnte sie spielen, aber sie lernte zu Anfang noch – ich glaube in Nürnberg – das Harfenspiel, jedoch Alles ohne Noten, wenigstens ohne gedruckte Noten, und dazu singend mit einer Stimme, die prächtig gewesen sein soll, aber ungeschult – wie der Vogel singt.

Zwanzig Jahre ist sie in der Welt umhergezogen, ohne ihre Heimath wieder zu sehen, dann ist sie zurückgekommen mit zwei Pferden und – einem Federhut. Den sahen die Bauern eines Tages in der Kirche, und alle Andacht war hin.

„Das ist die Marei, die Marei aus dem Ringelhäusle,“ ging es flüsternd von Mund zu Mund, und nachher standen die Leute unter dem mächtigen Ahornbaume vor der Kirchenthür und spotteten über den Hut und über die Falbeln an ihrem Kleide. Sie mag wohl ein wenig aufgeputzt gewesen sein, wie eben eine Harfenistin zu sein pflegt, und es mag ihr eine Genugthuung bereitet haben, Denjenigen, die ihr vielleicht nichts Gutes prophezeit hatten, in ihrer Weise zu imponiren.

Als man aber von dem Wagen mit zwei Pferden hörte, da stieg natürlich der Respect, und als Marei von ihrem ersparten Gelde das Haus auf der Redeck kaufte, ihrer Familie sich annahm, sich wieder bäuerlich kleidete und zu wirthschaften anfing, da war sie selbstredend eine respectable Person. Sie hat auch einen Musikanten geheirathet, und hoffentlich haben Thun und Lassen, Wollen und Meinen ebenso gut miteinander gestimmt, wie Harfe und Geige. Die Musik ist Erb- und Familiengut geblieben, und wer weiß, welche ungehobenen Schätze unter dem Schindeldache auf der Redeck zu Grunde gehen und zu Grunde gegangen sind, denn daß allzeit das Genie seinen Weg fände, von dem rauhen Estriche der Hütte zu dem Parquetboden des Palastes, daß unfehlbar das Genie sich Bahn bräche – wer glaubt dieser Redensart?

An einem schönen Nachmittage nun zogen wir hinaus, um die Marei zu besuchen, die ganze Gesellschaft, „je mehr, je besser, behauptete der Lehrer, und er hatte Recht, denn als die Alte uns über die Höhe kommen und den schmalen Pfad einschlagen sah, der auf ihre Hütte zuführte, trat sie uns vor der Hausthür entgegen und lachte und lachte vor lauter Plaisir bei jedem neuen Händedrucke, den sie bewillkommnend austheilte.

Wie wunderbar schön liegt diese Redeck! Der romantische Schwärmer könnte sich keinen schöneren Fleck für seine Hütte aussuchen, als diese Berghalde mit dem Blicke in das „Wilde-Gutachthal hinein und den Tannenwäldern ringsum, und als ich in das niedrige Zimmer mit den vielen kleinen Schiebfenstern trat, die in überraschender Weise mit blühenden Gewächsen verdeckt waren, da drängte sich’s mir auf: hier ist Poesie – ein Eindruck, den selbst die entsetzlichen Bilder, an die man Glas und Rahmen verschwendet hatte, und die belächelnswürdigen Nippesgegenstände nicht zu stören vermochten.

„Sie sind nicht aus der Gegend, vous n’êtes pas d’ici?“ fragte Marei zu mir gewendet.

„Ganz recht,“ erwiderte ich, „aber Deutsche bin ich doch, Norddeutsche – und Sie waren in Frankreich? Sie sprechen französisch?“

„Ja freilich! Ich war vier Jahre in Frankreich, und im Anfange verstand ich kein Wort, aber das hat halt nit lange gedauert,“ und dann erzählte sie Einiges aus ihrer abenteuerlichen Laufbahn, welches der Schwarzwälder Mundart wegen zum Theil schwer verständlich war.

Die Hauptgeschichte war, wie sie einmal bestohlen worden sei, wie man aber den eigentlichen Schatz, einen Beutel mit sechshundert Gulden, nicht gefunden, weil er tief unten in einer Kiste gelegen habe, unter Lumpen versteckt. Gulden seien es aber nicht gewesen, denn die habe man in Frankreich nicht, sondern lauter Sous und Franken. „Gott sei Dank! man hatte es nicht gefunden – O, Dieu merci! on n’avait pas trouvé,“ fügte sie hinzu. Es machte ihr offenbar Vergnügen, die wenigen französischen Brocken anzubringen, die ihr noch zu Gebote standen.

Nach einer Weile wurden Harfe und Geige geholt und gestimmt. Tochter und Enkelinnen kamen herbei, Alle barfüßig, und barfüßige Buben lugten um die Ecke. Das Auditorium saß auf der Bank, welche in den Schwarzwälder Stuben rings um die Wand geht, und in einem Winkel des Zimmers gruppirte sich das Orchester.

Die Alte trug heute – im Zimmer – einen gewöhnlichen runden Strohhut, unter dem zwei dünne, ach, so dünne, weiße Zöpfchen den Nacken herabhingen, eine Schürze, deren oberer

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 820. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_820.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)