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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

ihm zunächst eine gewisse Ungeduld. Diese Ungeduld brachte bei ihm den Unmuth hervor, eine allgemeine seelische Verstimmung.

Da kam der Einzug des Herrn in Jerusalem unter den begeisterten Hosiannahrufen des zum Passahfeste herbeigeströmten jüdischen Volkes. Unmittelbar daran reihte sich die Säuberung des Tempels von den Wechslern und Händlern, das offene Auftreten gegen die Anmaßungen der Hohenpriester und Schriftgelehrten. Das war etwas Greifbares, etwas Thatsächliches und Sichtbares. Jetzt schien die Messiasidee im Sinne des Judas sich zu verwirklichen. Aber des Weiteren geschah nichts. Der hoffend begrüßte, geliebte Meister verließ den Schauplatz wieder, ging nach Bethanien und beschäftigte sich hier mehr als je mit den Gedanken und Vorhersagungen seines nahenden Todes. Das rief den Unmuth des Judas wieder von Neuem in noch weit verstärkterem Maße hervor. Zu diesem Unmuthe gesellte sich dann noch die Unklarheit über die dunkeln Worte des Meisters, die der eigenen Auffassung seiner Mission so zuwiderliefen. Das mehrte noch die Verwirrung in dem ohnehin schon verdunkelten Geiste und Gemüthe.

Die mißvergnügte Aeußerung über den verschwenderischen Gebrauch der kostbaren Salbe zum Nachtheile der Casse der Jüngerschaft zu einer Zeit, wo – wir sprechen immer im Sinne des Judas – Geld sehr nützlich werden konnte, erscheint dann ganz nebensächlich. Eine bereits vorhandene allgemeine Verstimmung hält leicht unbedeutende Nebendinge fest, um sich dort gleichsam abzulagern.

Aus dieser Verstimmung heraus erwuchs nun in dem thatkräftigen Charakter die Erwägung, ob da nicht zu helfen, ob da nicht selbst etwas zu thun sei, um den bereits betretenen Weg zum Ziele wieder zu gewinnen und rechtzeitig zu beschleunigen. Welches Mittel bot sich ihm hierzu dar? Welches?

Der Meister zeigte es ihm selbst. Er zeigte es ihm in der directen Vorhersagung und Bezeichnung des Verrathes beim Ostermahle, der sich in der weitern Rede: „Was Du thust, das thue bald!“ die bestimmte Aufforderung zu handeln anschloß. Nehmen wir an, daß die Pharisäer und Hohenpriester bereits den Plan zur Gefangennahme des ihre Herrschaft gefährdenden neuen Propheten gefaßt und bereits Versuche gemacht hatten, den unmuthigen und dabei thatenlustigen Jünger für sich zu gewinnen, ein Umstand, der dem Scharfblicke des Herrn nicht entgangen sein konnte, so mußte diese eigenthümliche Aufforderung zum eigenen Handeln in der That außerordentlich bestimmend, nicht etwa verstimmend, auf Judas wirken. Derselbe konnte sich, wie eine neuere anonym erschienene Studie über den Judascharakter treffend bemerkt, jetzt sagen: Der Herr will in die Hände seiner Feinde geliefert werden, um seine göttliche Kraft zu bethätigen. So ging er hin und verrieth den Herrn. Wir legen hierbei die, wie es uns scheint, psychologisch richtigere Wiedergabe der Reihenfolge der Thatsachen im Evangelium des Johannes zu Grunde.

Daß Judas nicht in Wahrheit die Interessen des Hohen Rathes bei seinem Verrathe im Auge gehabt habe, dafür spräche dann namentlich sein Verhalten unmittelbar nach seiner That, das Hinwerfen des Blutgeldes, das kühne, Trotz und Verachtung bedeutende Auftreten in dem mächtigen, gefürchteten Priestercollegium, der wider dasselbe geschleuderte Fluch. Auch die Reue und Verzweiflung, die über Judas in ihrer ganzen furchtbaren Größe hereinbrechen, finden so ihre weit natürlichere Erklärung. Der Judaskuß wird aus einem Symbole des Verrathes ein Symbol der Liebe, indem er bekunden soll, daß der Jünger nur äußerlich, nicht innerlich abgefallen sei.

Welch tiefe Tragik aber beherrscht nun die Lage, in welche Judas nach der That und durch dieselbe sich versetzt findet! Das, was er nur scheinen wollte, ist er nun wirklich geworden, der Verräther, der Mörder seines Herrn und Meisters, des Herrn, an dem seine ganze Seele mit unbegrenzter Liebe hing. Die ganze Reihe seiner im Unmuthe gefaßten Schlüsse erweist sich als falsch und trügerisch. Das Werk, das er fördern wollte, sieht er mit seinem Meister für immer vernichtet. Verkannt und auf allen Seiten verachtet und ausgestoßen, verliert er unter sich allen Boden zu seiner Weiterexistenz, und da er auch keinen Richter hat, der ihn vermöchte zu richten, so bleibt ihm fast nichts weiter übrig, als sein eigener Richter zu werden.

Um der Tragödie seines Lebens einen versöhnenden Schluß zu geben, läßt ihn die Dichtkunst wohl noch in seiner letzten Stunde den Sieg der Christusidee erleben und empfinden.

Ja – dieser Ischarioth kann nicht blos anreizen zu einer Charakterstudie, er ist und war schon längst ein wirklicher Studiencharakter.

Fr. Helbig.




Blätter und Blüthen.


Noch einmal die Lebensversicherungsfrage. Mit Bezug auf den in Nr. 41 abgedruckten Artikel von Gallus empfingen wir vor einigen Tagen aus Luxemburg nachfolgende Zuschrift: „Dieser Tage unterhielt ich mich mit dem Vertreter einer belgischen Lebensversicherung über die Bitte, welche der Director der Leipziger Versicherungsbank in der letzten Nummer der ‚Gartenlaube‘ an die deutschen Frauen richtet. Da es wohl von Interesse ist, die Ansichten eines Ausländers über das von Herrn Gallus behandelte Thema zu hören, so erlaube ich mir, Ihnen die Mittheilungen meines Gewährsmannes in diesen Zeilen wiederzugeben. Auch er macht häufig die Wahrnehmung, daß Frauen ihre Männer abhalten, einer Lebensversicherung beizutreten; zum Theil sei Aberglaube, vielfach jedoch auch allzu großes Zartgefühl daran schuld. So sei es ihm vor noch nicht langer Zeit vorgekommen, daß eine Wittwe, deren Mann sich ohne Wissen derselben versichert hatte, die bedeutende Summe von hunderttausend Franken nicht habe annehmen wollen, weil es ihr widerstrebe, eine Geldentschädigung für den Tod ihres Mannes zu erhalten.

Der hauptsächliche Grund, daß sich die Lebensversicherungen in Deutschland noch nicht in dem Maße wie in verschiedenen anderen Ländern eingebürgert hätten, sei jedoch in der Art und Weise zu suchen, wie die deutschen Gesellschaften die Versicherungen abzuschließen pflegten. Man bekomme einen Fragebogen vorgelegt, dessen gewissenhafte Beantwortung nicht allein sehr schwierig sei, sondern der auch sofort das Gefühl erwecke, als sei er dazu angelegt, der Auszahlung der Versicherungssumme möglichst Hindernisse in den Weg legen zu können, wie denn auch in der That Processe aus dieser Ursache keine Seltenheiten seien. Bei den belgischen und französischen Gesellschaften hingegen sei der Abschluß der Versicherung viel einfacher. Sobald der zu Versichernde gesund sei, habe er keine weiteren Verpflichtungen einzugehen, als seine Prämie pünktlich zu bezahlen, und selbst in dieser Beziehung seien schon wiederholt Fälle vorgekommen, daß, obwohl der Versicherte mit der letzten Prämie im Rückstande gewesen, die Versicherungssumme ohne jeglichen Anstand ausgezahlt worden sei. Die meisten jener Gesellschaften legten Werth darauf, Streitigkeiten, wenn irgend thunlich, zu vermeiden, was ihnen indirect zu großem Nutzen gereiche.

Sind die erhaltenen Mittheilungen genau – was zu bezweifeln ich keine Ursache habe – so wäre es den deutschen Gesellschaften, von denen ja die meisten bekanntlich äußerst solide sind, wohl in beiderseitigem Interesse nicht genug anzuempfehlen, sowohl beim Abschlusse der Police, wie auch bei der Auszahlung der Versicherungssumme zuvorkommend zu sein.“ –




Eisenbahnwünsche. Die Erfahrung ist die Mutter der Verbesserungen, und wenn die Menschen den Winken dieser Mutter immer, nach Art guter und verständiger Kinder, hübsch folgten, würde es um Vieles schöner auf der Welt sein. Besonders aufmerksam sollten auf solche Winke Diejenigen sein, deren Thätigkeit dem Wohle des großen Ganzen dient, und dazu gehören vor Allem die Leiter der allgemeinen Verkehrsanstalten. Aber gerade bei der jetzt unentbehrlichsten derselben, bei der Eisenbahn, begegnen wir der Erscheinung, daß viele Verwaltungen derselben diese vom Publicum sehr verehrte Mutter als eine Stiefmutter betrachten, die sie in immer neue Unkosten stürzen wolle. Es ist daher nothwendig, sie gegen solche Mißachtung überall in Schutz zu nehmen, wo sie in offenbarem Rechte ist. Für diesmal haben wir zwei aus solchen Erfahrungen erwachsene Wünsche zu verdeutlichen.

1) Es sind wohl mehr als einmal, und nicht erst jüngst auf der neuen Saalbahn mit ihren noch unvollendeten Bahnhöfen, während der Fahrt Erkrankungsfälle vorgekommen. Auf solche Vorkommnisse ist auf den meisten Bahnhöfen noch nicht Rücksicht genommen worden: es gebricht fast überall an einem Raume, in welchem Erkrankte oder Verunglückte passende Unterkunft und erste Pflege finden könnten. Dieser Erfahrungssatz sollte nirgends außer Augen gelassen und bei allen Bahnhof-Neubauten sofort berücksichtigt werden.

2) Eine der häufigsten Klagen, namentlich bei langen Eiltouren, betrifft ein Bedürfniß, das nur arge Prüderie von einer öffentlichen Besprechung ausschließen könnte. Hatte es früher Tadel hervorgerufen, daß auf manchen Bahnhöfen die Anstalten „für Männer“ und „für Frauen“ zu entfernt von den Ein- und Aussteigestellen der Perrons angebracht waren, so gehen jetzt die Ansprüche weiter. Es ist längst der Anfang damit gemacht, die Eisenbahnzüge selbst mit Aborten zu versehen. Freilich eignet sich dazu nur das amerikanische Personenwagen-System, das dem Reisenden jeden Augenblick den Gang durch die gesammte Wagenreihe gestattet. Allerdings ist auch bei Wagenzügen deutschen Systems die Einrichtung besonderer Abort-Wagen getroffen, die Benutzung derselben ist aber mit dem offenbar sehr leidigen Zwang verbunden, solche Anstalten nur während der Haltezeit auf einer Station betreten und, wenn nur wenige Minuten Aufenthalt gestattet sind, erst auf der nächsten Station wieder verlassen zu können. In dieser Beziehung ist Abhülfe dringend nöthig, denn hier hat die Sorge für die Gesundheit der Reisenden ein sehr erfahrungsreiches Wort mitzusprechen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_796.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)