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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Er reichte mir einen Papierstreifen, auf dem mit halbverwischten Buchstaben geschrieben stand: ‚Ich habe mich meinem Bruder anvertraut; thue, was er von Dir verlangt! Wéra.‘

Obgleich die Schriftzüge, mit zitternder Hand hingeworfen, kaum lesbar waren, erkannte ich sie nur zu gut. Fragend richtete ich den Blick auf das stolze, unbewegliche Gesicht mir gegenüber, während eine plötzlich auftauchende Ahnung mich innerlich empörte. O, warum, warum hatte nicht ich eine gleich tödtliche Waffe in der Hand, wie er!

,Meine Schwester hat die Unbesonnenheit gehabt,‘ erwiderte mein Gegner auf die stumme Frage, immer mit der gleichen eisigen Entschlossenheit, ,Ihnen eine Menge Briefe zu schreiben. Diese befinden sich noch in Ihren Händen und damit die Ehre, die ganze Zukunft Wéra’s. Ich verlange, daß Sie mir dieselben ausliefern.‘

Unsere Blicke trafen einander in diesem Augenblicke sprühend, kalt und hart wie Stahl. Und, Helene“ – Hirschfeldt ergriff meine Hand in krampfhafter Erregung – „auf die Gefahr hin, daß Sie mich mit Ihrer Verachtung strafen, Sie sollen ein volles, rückhaltloses Bekenntniß von mir empfangen; der Dämon in mir erwachte. Man sollte mit Gewalt und List nicht einen Sieg über mich gewinnen; ich sprach, ohne mit der Wimper zu zucken, eine Lüge aus. Ich sagte: ,Die Briefe, Wéra’s Briefe sind längst sämmtlich vernichtet.‘ Aber – die Wirkung meiner Worte war eine andere, als ich erwartet hatte. Die gleichsam in Constantin’s Zügen versteinerte Ruhe löste sich; es zuckte darüber hin wie ein Strahl warmen Lebens, während seine Blicke noch immer mit Adlerschärfe, aber nicht mehr mit dem gleichen Hasse, an den meinigen hafteten.

,Alle vernichtet?‘ wiederholte er halb erstaunt, halb fragend, ‚Alle?‘

Wéra’s Bruder stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, der, aus tiefster Seele kommend, fast einem Schrei glich, und plötzlich stürzte er auf mich zu, fiel mir um den Hals und rief in leidenschaftlicher Erregung: ,Sie haben diese Briefe zerstört; Sie wollten also keinen unwürdigen Gebrauch davon machen, wie ich fürchtete; Sie sind nicht der Elende, für den ich Sie hielt – o, verzeihen Sie, daß ich Sie verkannt habe!‘ Was ich in diesem Augenblicke empfand, wie erbärmlich ich mir selber erschien dem Vertrauen dieses stolzen Herzens gegenüber, in welchem die Idee an eine Täuschung meinerseits nicht einmal auftauchte – wie könnte ich es in Worten ausdrücken!

‚Constantin Feodorowitsch,‘ sagte ich, schob ihn leise zurück und sah ihm fest in die Augen, ,die Briefe sind nicht zerstört.‘ Mit weit geöffneten Augen, aus denen der Schrecken leuchtete, starrte er mich an.

,Gedulden Sie sich einen Augenblick!‘ fügte ich hinzu. ,Von der Minute an, da Sie mir nicht mehr drohend gegenüber stehen, habe ich Ihnen auch nichts mehr vorzuenthalten oder zu verheimlichen.‘

Ich ging an meinen Schreibtisch, nahm aus dem verborgensten Fache desselben ein Packet, zündete eine Kerze an und kehrte zu meinem Gaste zurück.

,Hier, lesen Sie!‘ Ich hatte das erste der zierlichen Billete, die das Packet enthielt, mit den Augen überflogen und reichte es dann Constantin. Als auch er gelesen, hielt ich es an die Flamme der Kerze, die es bis auf ein winziges Atom schwarzer Asche verzehrte, und so weiter – weiter, bis das letzte der feinen Blättchen ein Raub des gierigen Elementes geworden war, welches in dem kurzen Zeitraume einer Viertelstunde so viele Versicherungen ewiger Liebe und Treue vernichtete.“

Ein Ton unendlicher Bitterkeit durchbebte die Stimme des Erzählenden bei diesen letzten Worten, und die Augen mit der Hand beschattend, verharrte er in düsterem Schweigen, während unsägliche Spannung fast meinen Pulsschlag stocken machte. Ich hätte ihm gern ein Wort der Theilnahme gesagt, aber ich brachte es nicht über die Lippen. Nach wenigen Augenblicken schon hatte Hirschfeldt die momentane Schwäche überwunden. Er strich das Haar von der Stirn, athmete tief auf und fuhr rasch fort, als dränge es ihn, in seinem Berichte vorwärts zu kommen:

„Ich stand ihm gegenüber; meine Arme hatten sich unwillkürlich ineinander verschränkt, und ich will es glauben, daß einiges von der Bitterkeit, die mir das Herz zusammenpreßte, finster auf meiner Stirn lag, als ich ihm sagte: ,Das war der letzte Brief, Constantin Feodorowitsch. Ihre Schwester kann ruhig schlafen und Sie auch – zu fürchten haben Sie mich nicht mehr.‘

Er sah mich an, lange, unaussprechlich traurig – ich hatte seine sonst so kalt blickenden Augen dieses Ausdruckes niemals für fähig gehalten. Endlich reichte er mir die Hand.

‚Sie sind doch ein edles Herz,‘ sprach er, ‚hören Sie mich an! Wenn vorhin mein Mißtrauen Sie beleidigt hat, so will ich Ihnen jetzt einen Beweis meines Vertrauens geben. Ich werde nichts mehr von Ihnen verlangen, ohne daß Sie alle Gründe dafür kennen. Kommen Sie und setzen wir uns! Ich will einmal denken, Sie seien mein Bruder, denn zum ersten Male in meinem Leben verlangt meine Seele nach einem solchen.‘ Ich that, wie er wollte, beinahe betäubt von seinen Worten, denn ihre ungewohnte Weiche, fast möchte ich sagen: Demuth weckte in mir die Ahnung von etwas Furchtbarem. Und ich sollte mich nicht täuschen.“

Hirschfeldt blickte um sich, wie um noch einmal die feste Ueberzeugung zu gewinnen, daß kein sterbliches Ohr uns belauschen konnte. Er war während seiner Erzählung in nervöser Unruhe mehrmals in meinem Zimmer hin und her geschritten, hatte sich gesetzt und war wieder aufgesprungen. Jetzt schob er einen Sessel neben den meinigen und begann, indem er sich darauf niederließ und sein Haupt dicht zu mir neigte: „Sie, Helene, müssen im Stande sein, mein Thun klar zu beurtheilen, und darum giebt es keine Gewalt im Himmel und auf Erden, die mich hindern könnte, Ihnen, Ihnen allein auf der Welt mitzutheilen, was ich erfahren habe. Indem ich es thue, lege ich meine Ehre in Ihre Hand, aber ich weiß, daß ich sie keiner sicherern Obhut anvertrauen kann.“

Vielleicht hätte ich seine Mittheilung, bei der es sich augenscheinlich um das Geheimniß eines Dritten handelte, zurückweisen sollen, aber meine Seele rang in dieser Stunde in zitternder Aufregung, als gälte es hier ein Urtheil über Leben und Tod zu vernehmen. Ueberdies: wußte ich nicht, daß keine Macht der Welt mir, was ich erfahren sollte, wieder über die Lippen bringen würde? Als Erwiderung auf die unausgesprochene Frage in meines Freundes Auge nickte ich leicht und legte meine Hand ruhig lächelnd in die seine, die er mir dargereicht hatte.

„Hören Sie, was ich durch Constantin erfahren!“ begann er wiederum. „Ich weiß nicht, ob Sie jemals davon gehört haben, daß seine Familie aus Polen stammt. Nun wohl, in dem Generale Adrianoff, seinem und Wéra’s Vater, hat das polnische Blut sich nicht verleugnen können. Trotz großer Auszeichnungen, mit denen der Kaiser ihn überhäuft, hat er sich in geheime Verbindungen eingelassen, von denen man sich in die Ohren flüstert, daß sie durch das ganze Reich verzweigt sind; er soll sich bei dem letzten Aufstande stark compromittirt haben. Seine und seiner Gemahlin lange, etwas räthselhafte Abwesenheit während dieses Winters erklärt sich dadurch. Es scheint mir sogar, als wäre er in seiner persönlichen Freiheit eingeschränkt worden, bis die vorläufig angestellte Untersuchung ein Resultat für oder gegen ihn ergeben hat. Mit dieser Untersuchung aber – und da liegt eben der Knotenpunkt der Verwickelung – ist von oben her Niemand anders betraut als Oberst Luschinoff, der für Wéra seit längerer Zeit schon bestimmte Verlobte. Constantin argwöhnt sogar, daß er sich eigens zu dem Amte gedrängt hat, um der Herrschaft über die Familie sicher zu sein, um den Widerstand zu brechen, den Wéra seinen glühenden Bewerbungen bisher entgegen gesetzt, und seine Absicht ist ihm nur zu gut gelungen.

Constantin wurde durch seine Mutter unterrichtet, daß die Beweise von seines Vaters Schuld in Luschinoff’s Händen sind. Ein Federstrich dieses Menschen wird genügen, die Familie zu vernichten und dem Elende preiszugeben. Für den General steht Freiheit, ja, vielleicht sein Leben, sein Vermögen, die Existenz seiner Familie, Alles auf dem Spiele, und Alles – kann seine Tochter retten, da Luschinoff sich bereit erklärt, in dem Augenblicke, in dem sie ihm ihre Hand bewilligt, die Beweise von ihres Vaters Schuld zu vernichten.“

Hirschfeldt hielt einen Augenblick inne und fuhr dann fort:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 730. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_730.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)