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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


es dessen nicht, so lange denselben einen Sängerstand mit den mnemonischen Mitteln der poetischen Form im Gedächtniß bewahrte. Gerade als dieser Stand zu verschwinden begann, erhielt Island durch seine Geistlichen theils direct, theils von den Angelsachsen das lateinische Alphabet der deutschen Mönche, dasselbe, in dem wir hier die „Gartenlaube“ gedruckt sehen und von dem sich immer noch Viele einbilden, es sei ein ursprünglich deutsches.

Zu Anfang des zwölften Jahrhunderts entstanden die ersten isländischen Bücher, z. B. die Geschichte der Besitznahme, das Landnama-bok. Die Geistlichen ließen sich von den des Schreibens unkundigen letzten Mitgliedern der aussterbenden Skaldenzunft dictiren, was ihr Gedächtniß vom germanischen Epos noch bewahrte.

Im Jahre 1643 fand Brynjulf Svendson, Bischof von Skalholt, unter anderen Handschriften eine sehr alte, Gedichte enthaltende. Er ließ sie abschreiben und setzte eigenhändig darauf den Titel „Edda Saemundar hins froda“, das ist die „Edda Sämund’s des Weisen oder Gelehrten“. Nur sein Zeugniß ist vorhanden für die erste Aufzeichnung durch Sämund. Selbst darüber herrscht noch Streit, ob wirklich ein bedeutender Geistlicher des zwölften Jahrhunderts genau diesen Namen geführt habe. Ich bin geneigt, zu vermuthen, daß auch dieser Name, wie Vyasa, Homeros, Hesiodos und Firdusi nichts Anderes ist als der nachträgliche Ehrentitel eines berühmten Sängers. Sämund würde isländisch „säende Hand“ bedeuten; aber der Name könnte im Nominativ auch Sämunni[WS 1] gelautet haben mit der Bedeutung Saat ausstreuender Mund. Ja, vielleicht ist er sogar deutschen Ursprungs und aus dem althochdeutschem Sagamunt umgeändert worden, entweder um die Urheberschaft der Liedersammlung auf einen bekannten Isländer zu übertragen, oder um für ihn auch im Altnordischen einen Sinn zu gewinnen, etwa wie für Mediolanum und Milano durch die Germanisirung Mai-Land.

Der Titel: Edda, das Femininum unseres „Aetti“, fordert uns auf zu der Vorstellung, daß hier eine Urgroßmutter ihren lauschenden Enkeln und Enkelkindern Kunde gebe von der Vergangenheit.

Die Sämunds-Edda zerfällt in einen mythologischen und in einen epischen Theil, obwohl mehrere ihrer Lieder gleichermaßen der Götter- wie der Heldensage angehören. Fast allen sieht man es an, daß sie zusammengefügt sind aus Bruchstücken, welche der Aufzeichner aus dem Gedächtnisse verschiedener Sänger niederschrieb, deren Keiner mehr den ganzen Zusammenhang übersah. Schon daraus entsteht große Dunkelheit. Außerdem ist die Form nicht selten die des absichtlich mit dem Sinne Versteck spielenden Räthsels, das mit der Frage schließt: Wißt Ihr, was das bedeutet?

Eines der ältesten Lieder, die Völu Spa, das ist: die Sprüche oder Weissagungen der Wala, der Seherin, beginnt also:

Lauschen der Andacht verlang’ ich von allen
Hohen und niederen Heimdalssprossen.
Walvaters Werke will ich verkünden,
Urzeitmären des Menschengeschlechtes,
Im Gedächtniß dauernd als meistbedeutend.

Die letzte Langzeile dieser Strophe, die ich der Deutlichkeit wegen mit zweien übersetzt habe, finden wir im ersten Verse des ältesten altdeutschen Epenrestes, des sogenannten Wessobrunner Gebets, so nahezu wörtlich wieder, als es bei Uebertragung in so schwierig gebundenen Alliterationsversen irgend zu erwarten ist.

Dann heißt es weiter in der dritten Strophe der Völuspa:

Im Urzeitanfang hat Ymir gewaltet;
Nicht Sand war noch See noch kalte Salzfluth,
Nicht Erde vorhanden noch Oberhimmel,
Nur klaffende Kluft und nirgend Kräuter.

Zu diesen Versen sind die an falscher Stelle überlieferten drei letzten der fünften Strophe hinzuzuziehen:

Nicht wußte die Sonne, wo ihr Saal sei,
Nicht wußten die Sterne, wo ihre Stätten,
Noch wußte der Mond, wo sein Wohngemach sei.

Wiederum trifft hiermit unser Wessobrunner Gebet sehr nahe und mit einem Verse in vollkommenster Wörtlichkeit zusammen. Denn sein echter und uralter Theil lautet, mit der kleinen, von J. Grimm und K. Müllenhof vorgeschlagenen und sehr wahrscheinlichen Ergänzung einer Lücke, die ich einklammere, also:

Das erfuhr ich im Volk als vornehmstes Wunder,
Daß Erde nicht war noch Oberhimmel.
Nicht Bäume gab es, noch gab es Berge,
Noch das mächtige Meer. Da glänzte der Mond nicht
[Noch ein schimmernder Stern], noch schien die Sonne
Und nur das Nichts war, das nirgend begrenzte.

Dieses Wessobrunner Gebet ist um 814 aufgeschrieben worden, also reichlich drei Jahrhunderte früher als die Edda und über ein halbes Jahrhundert vor der Colonisation Islands. Die Nachbildung könnte also nur aus dem Deutschen in’s Altnordische erfolgt sein. Möglicher Weise aber waren die deutsche Völuspa, deren einstiges Vorhandensein hiermit unzweifelhaft erwiesen ist, und die nordische beide nur dialectische Umbildungen eines viel älteren, wohl gar altarischen Liedes. Die Vermuthung liegt nicht fern, daß die sibyllinischen Bücher Roms eine Art lateinischer Edda gewesen sind und auch ein solches kosmogonisches Lied der Sibylle enthielten, ja, daß uns eine Reminiscenz aus demselben erhalten ist im Anfangsverse der Metamorphosen Ovid’s:

Vor dem Meere, der Erd’ und dem allesbedeckenden Himmel
War das Chaos.

Ymir bedeutet Aufruhrtoben, Wirrwarr und ist die Personification der durcheinander gährenden Urstoffe. Was ich oben mit „klaffende Kluft“ übersetze, heißt im Original „ginnunga gap“, das ist: das Gaffen (Maulaufsperren) der Gähnungen, ist also genau das griechische Chaos, das ebenfalls Gähnen, den gähnenden Abgrund bedeutet.

Auf der nördlichen Seite dieses Schlundes, erzählen andere Lieder und die prosaische oder jüngere, dem Snorri Sturluson zugeschriebene Edda, entstand Niflheim, die Nebelwelt voll Frost und Eis, auf der südlichen Muspelheim, die hellflammende Welt voll Licht und Feuer, bewohnt und beherrscht von Surtur, dem rauchschwarzen, der auch von dorther einst kommen und die Erde verbrennen wird. Als die von Muspelheim herüberfliegenden Feuerfunken den Reif auf der Grenze Niflheims erreichten und schmolzen – wir würden sagen: als der warme Südwind den Frühling nach Norden brachte – da gewann das Aufgeschmolzene Leben und Gestalt; da erst erstand jener Ymir. Er verfiel in Schlaf, das heißt der Aufruhr der Elemente legte sich; er begann zu schwitzen, das heißt es trat Sommer ein, und nun wuchs ihm unter dem linken Arme ein Sohn und eine Tochter, mit denen vermutlich Tag und Nacht gemeint sind, und seine beiden Füße erzeugten miteinander einen sechsköpfigen Sprößling, das heißt: nun erst entwickelte sich mit dem Wechsel der Tages- und Jahreszeiten die sechsmonatliche Vegetation.

(Schluß folgt.)




Blätter und Blüthen.

Zur Vollendung des Arndt-Denkmals auf dem Rugard hat das zur Errichtung des Monuments zusammengetretene Comité bekanntlich eine Verloosung in’s Leben gerufen und zur Betheiligung an derselben bereits im Juli dieses Jahres aufgefordert. Wir glauben es diesem patriotischen Unternehmen schuldig zu sein, nachträglich auf dasselbe hinzuweisen und im Nachstehenden die wesentlichsten Punkte aus dem Lotterieplane mitzutheilen. Nach demselben wird die Hälfte des gesammten Ertrages aus dem Loosverkaufe zur Anschaffung von Gewinnen verwendet; das Comité ist nach Möglichkeit bestrebt, nur wirkliche Kunst- und passende Gebrauchsgegenstände anzukaufen. Es werden 50,000 Loose ausgegeben werden und 5944 Werthgewinne in Höhe von 75,000 Mark bei Hauptgewinnen, von 1000 bis 7000 Mark zur Verloosung kommen. Loose à 3 Mark sind einzeln oder in Partien zum commissionsweisen Verkauf durch den Herrn Banquier Hermann Block in Stralsund zu beziehen.

Vom 18. December dieses Jahres an werden die Gewinne, laut Beschluß der Commission, in geeigneten großen Localen in Stralsund unentgeltlich zur Besichtigung ausgestellt werden. Der Ziehungstermin, welcher bald nach Weihnachten stattfinden soll, wird durch die Blätter bekannt gemacht werden.

Wir knüpfen an diese Hinweisung auf ein Unternehmen von echt deutschem Charakter den Wunsch, es möge die Mühe und Arbeit, welche die Instandsetzung der Lotterie zur Vollendung des Arndt-Denkmals in nicht geahntem Maße erfordert, durch einen günstigen Erfolg belohnt werden. Das kann aber nur geschehen, wenn alle deutschen Patrioten das Werk durch rege Theilnahme an dieser Lotterie fördern und vollenden helfen.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Sämunnr
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 728. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_728.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)