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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Als ich am Sonntag Nachmittag zu der Probe gefahren, so lautete der Bericht Masche’s, habe sich die alte Frau wieder eingestellt, die schon einmal ein Paket für mich überbracht.

Sie habe diesmal einen Brief abzugeben gehabt, den Masche in Empfang genommen, um ihn auf mein Zimmer zu tragen. Als sie indessen, ihn noch in der Hand haltend, über den Corridor gegangen, wäre Olga Nikolajewna ihr begegnet und habe sie gefragt, für wen der Brief bestimmt sei; als Masche meinen Namen genannt, habe sie ihr denselben ohne Weiteres mit dem Bemerken aus der Hand genommen, alle im Hause einlaufenden Briefe müßten zuerst an Zenaïde Petrowna abgeliefert werden. Das arme Mädchen war durch diesen Gewaltact mehr empört gewesen als erschrocken. „Denn,“ fuhr es in seinem Berichte fort, „wir Alle wissen zwar, daß die Gouvernante eine böse Hexe ist, aber ich dachte mir, den Brief müßte sie doch wieder herausgeben und an Fräulein Helene abliefern.“

Es sollte aber anders kommen, als Masche geglaubt hatte. Nach einer halben Stunde etwa war sie in den Salon gerufen worden, und die Herrin des Hauses, neben der nur Olga gegenwärtig gewesen, hatte ihr unter den heftigsten Drohungen verboten, mir irgend etwas von dem angekommenen Billete zu sagen. Dabei war es ihren scharfen Blicken keineswegs entgangen, daß letzteres, geöffnet und unter ihrem Taschentuche nachlässig verborgen, auf Olga’s Schooße lag.

Seitdem nun hatten in meiner kleinen Zofe die Anhänglichkeit an mich und die Angst, das Gebot unserer Gebieterin zu übertreten, mächtige Kämpfe hervorgerufen, bis endlich die erstere den Sieg davon trug und sie sich entschloß, mir zu beichten; mochte doch ein richtiger Instinct sie das Unterschlagen des Briefes mit der heutigen auch ihr nicht verborgen gebliebenen allgemeinen Verstimmung in Verbindung bringen lassen. Nachdem ich die Kleine über Alles ausgeforscht, beruhigte ich sie durch ein erneutes Versprechen strengster Verschwiegenheit und schob sie alsdann zur Thür hinaus, denn jetzt bedurfte ich erst recht der Einsamkeit.

Ich zweifelte keinen Augenblick, daß Wéra eines ihrer exaltirten Billete, die sie unversiegelt in einen künstlichen Knoten zusammenzulegen pflegte, unvorsichtig genug sogar in meiner Abwesenheit in’s Haus geschickt hatte. Da sie immer zu ihrer Correspondenz mit mir sich der deutschen Sprache bediente, konnte allerdings Niemand unter unseren Hausgenossen das Billet entziffern außer – Olga. Diese, wie sich leicht errathen ließ, war schlau genug gewesen, unserer Gebieterin den unglücklichen Brief unter die Augen zu bringen und deren seit der Kindergesellschaft lebhaft erregte Neugierde zu neuem Unheile auszubeuten, während sie selbst durch die Mitwissenschaft der Madame Branikow vollkommen gedeckt war. Was mochte in dem Billete stehen, und was sollte ich beginnen!? Ich fühlte mich der Verwickelung gegenüber vollkommen ohnmächtig, so lange Zenaïde Petrowna nicht geradezu aussprach, um was es sich handelte, denn Masche’s wegen durfte ich nicht einmal eine Anspielung wagen, daß ich von der Wahrheit eine Ahnung habe. Ohnehin konnte mir nicht einfallen, mein dem Mädchen gegebenes Wort zu brechen, aber ein anderer Gedanke kam mir plötzlich wie ein Lichtstrahl und zeigte mir noch einen rettenden Ausweg, den einzigen, der mir blieb; denn da in dieser Zeit der Wahlen Hirschfeldt durch Dienstpflichten sehr gebunden ist, darf ich nicht einmal hoffen, ihn hier zu sehen, um mir bei ihm Rath zu holen, ja, kann bei der Stimmung im Hause sein Erscheinen auch gar nicht wünschen. Morgen aber findet in der Assemblée wieder ein Ball statt, den die Branikow’s mit Olga besuchen werden, und sicher wird auch Fräulein Adrianoff dort sein. Ich brauche mithin nur als Zuschauerin auf die Galerie zu gehen, um Wéra zu sehen, sie nach dem Briefe zu fragen und sie zu warnen.

Nachdem ich mir noch einmal Alles überlegt und meinen Entschluß gefaßt hatte, begab ich mich wieder in den Salon, und folgte meiner alten Taktik, die herrschende unangenehme Stimmung nicht zu bemerken. Ich suchte mich möglichst unbefangen zu unterhalten, und sobald sich eine nur irgend günstige Gelegenheit darbot, erklärte ich mit größter Ruhe, daß ich das oft gemachte Anerbieten unserer Gebieterin, bei einem Balle in der Assemblée auf die Galerie zu gehen, morgen mit Vergnügen annehmen würde. Es konnte mir nicht entgehen, daß meine Erklärung sie äußerst zu frappiren schien, aber ich hütete mich wohl, es zu beachten, sondern beschäftigte mich emsig mit meiner Stickerei, und da Zenaïde Petrowna, welche wahrscheinlich eine passende Entgegnung nicht finden konnte, beharrlich schwieg, so betrachtete ich die Sache als abgemacht und erwähnte ihrer noch mehrmals im Verlaufe des Abends, um jedes Mißverständniß unmöglich zu machen. Sehen wir denn, was der morgende Tag bringen wird!


Den 24. Januar.

Lange ertrage ich diesen Zustand nicht mehr; eine geheime Angst schnürt mir das Herz zusammen, und ich weiß nicht, wie ich mir rathen und helfen soll. Selbst zum Schreiben fehlt mir eigentlich der Muth, und ich zwinge mich nur dazu, um womöglich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 713. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_713.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)