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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Fortsetzung.)


Bei der Gelegenheit sah ich auch zum ersten Male den General, Wéras Vater, der bisher, wie ich glaube, auf einer Inspectionsreise abwesend war. Es ist ein großer, stattlicher Mann mit dunkeln, etwas stechenden Augen und soll polnischer Abkunft sein. Er könnte mir Furcht einflößen; ich fühlte mich in seiner Gegenwart unwillkürlich beengt. Sein Anblick gemahnt mich sofort an jene halbcivilisirten Aristokraten, die den Gegner, der ihnen im Wege steht, kaltblütig vernichten können. Constantin ist, obgleich eine viel gewinnendere Persönlichkeit, doch dem Vater sehr ähnlich. Olga, von der man sicher überzeugt sein kann, daß sie in jeden die Stadt durchlaufenden Klatsch eingeweiht ist, sagte mir neulich: als man den General auf das Gerücht hinsichtlich seiner Tochter und Hirschfeldt’s aufmerksam gemacht, habe er mit einer unbeschreiblich wegwerfenden Miene nur die Achseln gezuckt, als wenn dergleichen bei seiner Wéra gar nicht vorkommen könne und der Capellmeister ihm selbst für den Argwohn zu unbedeutend sei. Selbstverständlich weiß ich nicht, ob an diesem Gerede irgend etwas Wahres ist, doch hatte General Adrianoff gegen Madanne Branikow’s Ersuchen weniger einzuwenden als die Mutter, und so besucht das Fräulein wieder unsere Soiréen und kommt auch an den Zwischentagen oftmals zum Ueben, aber ihr Bruder begleitet sie fast immer, und zu vertraulichen Mittheilungen zwischen ihr und Hirschfeldt findet sich sehr selten Gelegenheit. Ich habe sie auch mit aller mir zu Gebote stehenden Beredsamkeit zur Vorsicht ermahnt. Das junge Mädchen folgt einigermaßen meinen Rathschlägen, um wenigstens in ihrer Freiheit, uns zu besuchen, nicht wieder eingeschränkt zu werden. Für sie scheint es schon neues Leben, wenn sie nur mit dem Geliebten eine und dieselbe Luft athmen, wenn sie ihn sehen darf. Mit ihm freilich ist das anders. Er erträgt diesen Zustand oft mit knirschender Ungeduld, wenn er bei derselben auch niemals äußerlich die Selbstbeherrschung verliert, nicht selten aber mit einer bei seinem Charakter bewundernswerthen Resignation.

Seit der vorigen Woche bin ich übrigens ernstlich böse mit ihm, einer Unvorsichtigkeit wegen, die uns noch viel Unangenehmes bereiten kann. Ich hielt es nämlich für meine Pflicht, Hirschfeldt darauf aufmerksam zu machen, daß seit einiger Zeit Olga Nikolajewna sowohl ihn als Wéra, wo es nur irgend thunlich, mit Falkenblicken beobachte. Offenbar hat sie sich vorgenommen, Gewißheit über das wahre Verhältniß der Beiden zu erlangen, und da die Gouvernante mit Allem, was sie thut, sehr bestimmte Zwecke zu verbinden pflegt, so stieg mir bereits die unheimliche Ahnung auf, ein bedeutsameres Motiv, als reine Neugier, möge sie zu diesen Beobachtungen anspornen.

Der Musiker begegnete meinen Andeutungen mit jenem Lachen, das ihn den Frauen so gefährlich macht. „Seien Sie ruhig!“ sagte er. „Die Kleine fürchte ich nicht. Ich werde ein wenig liebenswürdig mit ihr sein und sie dadurch zufriedenstellen.“

Ich erwiderte nichts, weil mich die Antwort ärgerte, aber es sollte schlimmer kommen, denn am Abend entdeckte ich plötzlich Hirschfeldt in der animirtesten Unterhaltung mit Olga. Aus all’ ihren Zügen strahlte innere Befriedigung, und sehr häufig noch entdeckte ich sie später in des Capellmeisters Nähe und vernahm, wie sie nicht allein Witz- und Scherzworte mit ihm wechselte, sondern auch Blicke, die ihrerseits wenigstens an schmachtender Zärtlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen. Mit einem Worte – Hirschfeldt machte Olga den Hof, und sie ließ es sich mit wohligstem Behagen gefallen. Seitdem nun ist die Gouvernante wie umgewandelt. Die Beachtung, welche der Musiker ihr vielleicht zu ihrer eigenen Ueberraschung urplötzlich widmet, hat die verborgene Leidenschaft, die sie wahrscheinlich schon längere Zeit für ihn gehegt, zu hellen Flammen angefacht. Sie befindet sich in einer wahrhaft beängstigenden Aufregung, sodaß sie selbst in den Unterrichtsstunden die befremdlichsten Zerstreutheiten begeht. Fast das dritte Wort, welches sie spricht, ist Hirschfeldt’s Name. Gegen mich erging sie sich anfangs in sehr durchsichtigen Anspielungen und konnte sich endlich nicht versagen, mir geradezu und triumphirend die Mittheilung zu machen, der Capellmeister bete sie an, sie sei nur noch nicht mit sich im Reinen, ob sie seinen Bewerbungen Gehör schenken werde.

Ich fühlte mich diesen Gefühlsergüssen gegenüber nicht wenig in Verlegenheit gesetzt und konnte mich doch nicht enthalten, das erregte Mädchen darauf hinzuweisen, daß einige Aufmerksamkeiten von Seiten der Männer noch lange kein Beweis für deren ernstliche Absichten seien. Meine Worte hatten indessen eine der guten Absicht entgegengesetzte Wirkung. Olga Nikolajewna

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 661. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_661.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2019)