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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

äußerste: „Karl August war eine dämonische Natur, voll unbegrenzter Thatkraft und Unruhe, sodaß sein eigenes Reich ihm zu klein war und das größte ihm zu klein gewesen wäre.“

Doch gerade bei der engen Umgrenzung seines Wirkungskreises, bei der Kleinheit seiner Mittel, müssen uns seine Verdienste um so höher erscheinen: von dem gewaltigen Antriebe, den er und seine genialen Gefährten gegeben, datirt sich der geistige Aufschwung der deutschen Nation und zugleich vom Erlasse seiner Verfassung, von seinem Schutze der freien Presse der Beginn des politischen Lebens des Volkes. So ehrte ihn das deutsche Vaterland am 3. September 1857; so wird ihn dasselbe am 3. September dieses Jahres, der bevorstehenden Säcularfeier seines Regierungsantritts, als des Beginnens seines Wirkens, ehren; so wird er fortwirkend in Wirklichkeit unsterblich bleiben, und allezeit wird es kein wahreres, kein schöneres Wort geben, als dasjenige Goethe’s über seinen Freund und Fürsten:

„Klein ist unter den Fürsten Germaniens freilich der meine,
Kurz und schmal ist sein Land, mäßig nur was er vermag.
Aber so wende nach innen, so wende nach außen die Kräfte
Jeder; da wär’ es ein Fest Deutscher mit Deutschen zu sein.“




Bis zur Schwelle des Pfarramts.
4. Im „Stift“.
1. Ideal oder real?

Etwas näher an den Quellen des Lebens, etwas näher an den Brüsten der Wissenschaft! So fanden wir’s wirklich, als wir nach wohlbestandener Maturitätsprüfung und vierwöchentlichen Ferien im October 1844 in das höhere theologische Seminar in Tübingen, Stift genannt, einzogen. Zwar willkürlich leben konnte man auch hier nicht – war auch kein Schade; die Hausordnung war für die hundertzwanzig Zöglinge, welche die Räume des früheren Augustinerklosters füllten, eine streng geregelte, und manche seltsame und grillenhafte Schnörkel aus früheren Tagen hingen ihr noch an; aber wer Studirens halber in diesen Räumen sich aufhalten wollte, hatte sich schon damals nicht – heute soll die Lebensordnung eine noch viel freiere sein – mit Fug zu beklagen, und wenn man an die Einrichtungen des niederen Seminars, von denen man eben hergekommen war, zurückdachte, so glaubte man die volle Luft der Freiheit einzuathmen. Morgens stand freilich wieder der Aufwärter, im Winter mit seiner großen, unförmlichen Laterne, vor dem Bette, und da galt kein „noch ein Bischen Händeringen, noch ein Bischen Schlaf“, wenn man sich keine Strafnote zuziehen wollte; doch durfte man am Sonntage nach Herzenslust ausschlafen und auch in der Woche hatte Jeder einen Tag frei für dieses wichtige Geschäft, sofern er nur nicht unterließ, vor zwölf Uhr die Repetenstube zu betreten und die obligate Formel herzustammeln: „Herr Repetent, ich bitte um Entschuldigung von wegen der Schlafkammer.“

Kaum war man aufgestanden, so erschien der Bediente, deren je einer für zwei Stuben bestimmt war, bei jedem Einzelnen mit der Anfrage, ob man Etwas bedürfe, und diese Frage wiederholte er mit jedem Stundenschlage an jedem Pulte – eine Selbstherrlichkeit, wie sie im späteren Leben nur Wenigen wieder zu Theil wird. Und von welchem Behagen fühlte man sich umfangen, wenn die trauliche Kaffeemühle rasselte und das Wasser auf dem eigenen Tische brodelte und die Cigarre das engumfriedete Plätzchen in einen süßen Wolkendunst einhüllte!

Freilich war man nicht für sich allein. Es fehlte das eigene Stübchen mit all der Traulichkeit und Heimlichkeit, mit welcher es das Gemüth umfängt. Wir bewohnten zu Sechsen eine Stube; da hatte Jeder sein Pult, seinen Tisch, sein Fenster, das einen Ausblick auf die herrlichste Landschaft, auf Neckar und schwäbische Alb eröffnete. Da spann man sich nun in seiner kleinen Welt so gemüthlich ein, wie man konnte: die ganze Wand füllte man mit Bildern – über mir hatte ich Lessing, Baur, Strauß, Shakespeare hängen – und mit zahllosen Silhouetten der Freunde, und um das kleine Heim ohne Haß vor der Welt zu verschließen, wurde ein grüner Vorhang gezogen, der sich an einer von der Wand nach dem Ende des Pultes gespannten Schnur leicht vor- und zurückschieben ließ. Es war eine der dümmsten Grillen der Stiftsordnung, diesen Vorhang bei Strafe zu verbieten.

Die Ausgangsfreiheit war zwar noch sehr beschränkt, berücksichtigte aber doch die Bedürfnisse einer vorgerückten Altersstufe und genügte mäßigen Ansprüchen, zumal der Scharfsinn Mittel genug fand, ihre Schranken zu erweitern oder auch zu überspringen. Man zeigt mir noch nach zwölf Jahren das Fenster, an dem sich mein Bruder mit Karl Gerok nächtlicher Weile hinuntergelassen hatte, um ein durch die Stiftsglocke unterbrochenes Ballvergnügen in der Stadt fortzusetzen; denn eine so freche Uebertretung der Gesetze von Seiten zukünftiger Prälaten war ein Ereigniß, dessen Erinnerung sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzte, zugleich eine Warnungstafel für alle Künftigen vor dem allwissenden Auge der wachsamen Stiftspolizei. Mir fehlten derartige romantische Neigungen, und ich verspürte keinen Kitzel für so gefährliche Abenteuer. Ich bin diesen württembergischen Bildungsanstalten unendlich viel Dank schuldig, aber am dankbarsten bin ich für die Liberalität, mit der man in einer so streng geordneten Anstalt, die außerdem den Zöglingen so große Vortheile gewährte, den Collegienbesuch völlig uncontrolirt ließ. Früher, hieß es, sei ein Aufseher in jedem Hörsaale erschienen, um die abwesenden Stiftler aufzuzeichnen; zu meiner Zeit war dieser Zwang, der mir die Universität zur unerträglichen Last gemacht hätte, bis auf die letzte Spur verschwunden. Für den Trost dessen, „was man schwarz auf weiß besitzt“, hatte ich nur ein schwaches Organ; das Ablesen geschriebener und meistens, ach! schon zum wievielten Male vorgetragener Hefte erschien mir so traurig und langweilig, und das emsige Nachkritzeln von Wort zu Wort machte mich müde und dumm. Dem Privatstudium boten die reichen Bibliotheken besseren Stoff als die Hefte mancher Docenten.

Fielen dann solche Vorlesungen in die außerhalb des Stifts gelegenen Hörsäle der Aula, was in den ersten anderthalb Jahren bei den meisten der Fall war, so konnte man die Grenzen der Freiheit gefahrlos nach Belieben erweitern; man passirte das Stiftsthor, ohne daß der Name von dem dort residirenden Aufseher in sein Buch eingeschrieben wurde, und konnte nun die Schritte von den dunklen und gedrückten Sälen den Bächen des Lebens zuwenden. Wie oft lag ich, während der jüngere Fichte – als philosophischer Schriftsteller nicht ohne Verdienst, aber weniger glücklich als Docent und uns Südländern schon durch seinen norddeutschen Dialect und seine scharfe Stimme schwer zu ertragen – sein „Meine Herren! fassen Sie diesen Gedanken in seiner ganzen Schärfe!“ über die Köpfe der schläfrigen Hörer hinrief, wie oft lag ich auf dem Schloßberge im Waldesschatten oder unter einem blühenden Baume und folgte mit den Augen über ein Blatt von Goethe oder Mörike den eilenden Wolken! Wie oft, wenn Professor Reiff sein uns Allen und vermuthlich auch ihm unverständliches System der Willensbestimmungen mit heulender, oft bis zum Kanzelpathos erhobener Stimme entwickelte, saß ich mit einem Freunde im Garten der „Eifertei“ neben Uhland’s Wohnung oder des Winters in dunkler Spelunke bei Wurst und Bier – und habe es nie bereut. In den beiden letzten Jahren meines Tübinger Aufenthaltes genoß ich als Bibliothekar des Museums, der in Verbindung mit Fr. Vischer die Neuanschaffung der Bücher zu besorgen hatte, eine fast unbeschränkte Ausgangsfreiheit, die ich zu fleißigen Studien auf der mit aller Literatur vortrefflich ausgestatteten Bibliothek benützte.

Auch für die specifischen Genüsse des geselligen Burschenlebens ließ die gestrenge Stiftsordnung Raum, einen reichlichen in den stets freien Sommerabenden, einen allzu spärlichen im Winter, wo sie, an zwei Tagen in kurz gemessenen Stunden gewährt, mit hastiger Gier wie ein Raub davon getragen wurden. Scheffel hat in seinem „Gaudeamus“ mit genialem Geschick dem ungeheuren Idealismus, der im deutschen Glase liegt, einen classischen Ausdruck verliehen. Der Amerikaner

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 620. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_620.jpg&oldid=- (Version vom 29.12.2019)