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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Im Uebrigen hat der Umstand, daß man sich jetzt allerseits des in Vergessenheit und Verachtung gesunkenen La Mettrie erinnert, noch seine tieferen Gründe. Eine Reihe neuerer Forschungen hat gezeigt, daß sich der Automatismus des thierischen Körpers weiter verfolgen läßt, als man geglaubt hat. Vor Allem ist hier der seit dem Jahre 1870 in Gemeinschaft mit dem Privatdocenten Dr. G. Fritsch begonnenen Gehirnuntersuchungen des Prof. Ed. Hitzig aus Berlin (jetzt in Zürich) zu gedenken, um so mehr, als ein englischer Anatom alsbald Anstalten machte, die glänzenden Entdeckungen des deutschen Gelehrten an Kindesstatt anzunehmen. Hitzig entdeckte nämlich, daß, entgegen der früher allgemein herrschenden Ansicht, von scharf umschriebenen Stellen des freigelegten Vordergehirns der Säugethiere aus durch einen schwachen elektrischen Strom die verschiedenen Muskelgruppen des Körpers nach Belieben in Bewegung gesetzt werden könnten, gerade als ob dies aus eigenem Antriebe des Thieres geschähe. Einen kleinen Affen, eine Makakoart, welchen Hitzig im vergangenen Jahre (1874) von Director Bodinus zu diesen Versuchen erhalten hatte, konnte er auf diesem Wege zwangsweise eine Reihe von Bewegungen ausführen lassen, die von willkürlichen Bewegungen kaum zu unterscheiden waren. Nach dem Wunsche der Zeugen dieser Versuche griff der Affe mit der rechten oder linken Hand, sperrte das Maul auf und streckte die Zunge heraus. Dabei ist die Lage der Mittelpunkte für die verschiedenen Körperbewegungen bei derselben Thierart eine so übereinstimmende, daß Hitzig schon von außen am Schädel die Stelle des Gehirns andeuten kann, von welcher z. B. der linke Vorderfuß seine Bewegungsabtriebe empfängt. Bei verwandten Thierarten ist die Vertheilung eine ähnliche, und die Beobachtung zahlreicher Verwundeten mit Kopfschüssen, welche Hitzig und andere Forscher während des letzten Krieges angestellt haben, lassen keinen Zweifel darüber, daß die Vertheilung dieser Bewegungsmittelpunkte beim menschlichen Gehirne im Ganzen eine ähnliche ist wie bei den Affen.

Das sind für Diejenigen, welche von der Gebundenheit der Seele an körperliche Organe nichts wissen wollen, sehr ärgerliche Forschungsergebnisse, und wir können recht wohl die Quelle der äußerst heftigen Bewegung begreifen, welche sich seit Jahr und Tag gegen die Zulässigkeit der sogenannten Vivisectionen, das heißt der Zergliederungen lebender Thierkörper erhoben hat. Den deutschen Professor Schiff in Florenz soll man kürzlich auf der Straße mit Schimpfreden wegen seines jährlichen Hundeverbrauche, ja mit Steinwürfen verfolgt haben, und in England ist man daran, den Schutz der Parlamente und Regierungen gegen die Vivisectionen anzurufen. Man will sie unter polizeiliche Oberaufsicht stellen, als ob von Männern der Wissenschaft solche unütze Quälereien zu fürchten seien, wie wir sie täglich auf der Straße sehen müssen. Es wäre in der That besser, wenn jene, gewiß zum Theil wohlmeinenden, aber unklaren Leute, sich zunächst des Schicksals unserer treuen Schutzbefohlenen, der vielgeplagten Zug- und Schlachtthiere, annehmen wollten, statt sich mit verdächtiger Fürsorge und übel angebrachter Sentimentalität um jene Minderheit von Thieren zu kümmern, die in den physiologischen Laboratorien verbluten und deren Empfindlichkeit für Schmerzen oftmals, z. B. bei den Fröschen, eine ziemlich geringe sein mag.

Was endlich das Verhältniß des Seelischen zu dem thierischen Automatismus anbetrifft, so geben die Anhänger dieser Anschauung natürlich zu, daß das Seelische, welches bei den niederer Thieren nur wie eine Begleiterscheinung der Lebensvorgänge auftrat, sich in den höchsten zu einer gewissen Selbstständigkeit emporgerungen habe. Allein obwohl diese Absonderung eine so vollständige ist, daß, wie wir wissen, das Denkorgan tief erkranken kann, ohne den übrigen Körper erheblich in Mitleidenschaft zu ziehen, obwohl Vernunft und Selbstbewußtsein dem Leben und Wohlbefinden ziemlich entbehrlich scheinen, ist das Geistige doch in gesunden Verhältnissen mit dem Automatismus des Körpers so eng verstrickt, daß man nicht umhin kann, auch einen Automatismus des Denkens zu erkennen. Die scharfsinnigsten Selbstbeobachtungen und Grübeleien philosophisch angelegter Köpfe haben es nicht zu entscheiden vermocht, ob von einer vollendeten Willensfreiheit des Menschen zu reden sei, und die tiefsten Denker haben diese Frage verneint. Ohne Zweifel erhält der Körper beständig von dem Centralorgane, in welchem sich die Anregungen der Außenwelt vereinigen, seine Verhaltungsmaßregeln, aber nicht weniger oft wird es offenbar, daß der Körper der befehlende und der Geist der gehorchende Theil ist. Dieses Ineinanderwirken wird am lehrreichsten, wenn wir sehen, wie sich geistig Erworbenes zuletzt vollkommen dem körperlichen Automatismus einverleibt. „Unser Thier“, wie der geistvolle Xavier de Maistre den menschlichen Körper zu nennen pflegte, lernt nicht ohne saure Mühe laufen, reden, schreiben, Handarbeiten machen, Clavierspielen etc. Aber wenn die Muskeln einmal eingeübt sind, dann mag der Geist, der seine Schuldigkeit gethan hat, gehen, und „unser Thier“ spaziert bei völligster Gedankenabwesenheit umher, tanzt und spielt Clavier zum Entzücken, ja es soll eingeübte Automaten geben, die gleich den entsprechenden Maschinen von Kempelen und Vaucanson ganze Abende plaudern und dicke Bücher schreiben können, ohne den geringsten Gedanken dabei zu haben. Auch der Brief, den der Pariser Automatmensch ohne Bewußtsein geschrieben haben soll, gehört dahin. Hier geht der Automatismus des Körpers in den des Geistes über, und dieser Uebergang ist der nachdenklichste Punkt der ganzen Frage. Gleichwohl muß ich mich hier dem geneigten Leser empfehlen und ihm überlassen, die weiteren Schlüsse nach seinem Bedürfnisse zu ziehen.

Carus Sterne.



Aus Capitain Boyton’s Leben.

Der kühne Amerikaner, der, getragen von seinem Kautschuk-Costüm, die Meerenge zwischen England und Frankreich durchschwamm, ist neuerdings in Deutschland zum Helden des Tages geworden, nachdem sich das Gerücht bewahrheitete, daß er, von einem unternehmenden Restaurateur in der Nachbarschaft von Berlin um einen enormen Preis gewonnen, sich und seinen Apparat auf dem von der deutschen Reichshauptstadt eine halbe Stunde entfernten „Weißen See“ produciren wird. Wir glauben daher nicht irre zu gehen, wenn wir annehmen, daß einige nähere Angaben aus dem Leben des Capitain Boyton, wie dieser selbst sie dem Berichterstatter eines englischen Blattes gemacht, unsern Lesern nicht uninteressant sein werden. Ist das Leben des waghalsigen Yankee bisher doch ein wahrer Roman voller Abenteuer und Abwechselungen gewesen, obschon er die Jahre der Männlichkeit kaum erreicht hat – als Schatzgräber, als Perlenfischer, als Diamantensucher, als Trapper und Händler in den Prairien des fernen Westens, als Freischärler in Mexico und Frankreich, in allen diesen verschiedenen Fächern hat sich Capitain Boyton bereits versucht. –

„Schon in meiner frühesten Kindheit,“ beginnt er seine Erzählung, „fühlte ich mich unglücklich und im höchsten Grade unbehaglich, wenn ich mich nicht alle Tage baden konnte. Als ich acht Jahre alt war, verbrachte ich den größten Theil meiner Zeit damit, daß ich vom Wasser abgeschliffene Steine aus dem Strome fischte, wie man dieselben bei uns zum Ausbessern des Straßenpflasters gebraucht. Für je hundert solcher Steine erhielten wir dreißig Cents. Ich war das Haupt dieser jugendlichen Taucherbande und krabbelte manchen Tag so oft auf dem Grunde des Flußbettes umher, daß ich dort mehr zu Hause war als in meiner elterlichen Wohnung.

Mein erstes Lebensrettungswerk versuchte ich 1859, als elfjähriger Knabe. Eines Nachmittags ging die ganze Schule, die ich besuchte, zum Baden hinaus. Der Strom war ziemlich niedrig, und manche von uns konnten ein gut Stück in das Wasser hinein waten. Plötzlich aber gerieth einer meiner Cameraden in eine tiefe Stelle. Ich stand noch am Ufer, als das Geschrei erscholl, einer von uns sei ertrunken. Sofort sprang ich in’s Wasser, denn jählings kam’s wie eine wahre Leidenschaft über mich, den Jungen zu retten. Ich tauchte unter, allein ich konnte ihn nicht sehen und kam unverrichteter Sache wieder an

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 606. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_606.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)