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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Zum Sedan-Feste.

Tag des Sieges ohne Gleichen,
Tag des höchsten Jubels voll!
Steigt empor, ihr Flammenzeichen,
Eines Volkes Opferzoll!
Baum der Freiheit, Baum der Einheit,
Breite schützend dein Geäst,
Wahre des Triumphes Reinheit,
Weihe uns das Sedan-Fest!

Nicht zu frevlen Waffentänzen
Haben wir den Brand entfacht;
Nicht um eitlen Ruhmes Glänzen
Schlugen wir die Riesenschlacht:
Heil’ger Zorn hat uns die Klingen
Rächend in die Hand gepreßt,
Half die Götterthat vollbringen –
Heilig ist das Sedan-Fest.

Sturz des corsischen Cäsaren,
Sturz der welschen Raubbegier,
Sieg des deutschen Kaiseraaren
Mit des Reiches Kronenzier,
Sieg des deutschen Einheitsdranges,
Der sich nimmer fesseln läßt,
Sturz der Zwietracht, fremden Zwanges: –
Das ist unser Sedan-Fest.

Wohl nicht frei von Wolkenschatten
Grüßt uns dieses Tages Blau;
Hier und dort auf Deutschlands Matten
Liegt’s wie Frost und gift’ger Thau.
Armer Thoren blöde Blicke
Schielen scheu nach Süd und West –
Doch wir brechen neue Tücke
Einst an neuem Sedan-Fest.

Denn es kommt der Tag der Tage,
Wo der Geist des Lichtes siegt,
Wo verstummt die letzte Klage
Und der letzte Feind erliegt.
Baum der Freiheit, Baum der Einheit,
Golden glänzt dann dein Geäst,
Und in ungetrübter Reinheit
Feiern wir das Sedan-Fest.

Ernst Scherenberg.


Der Automat-Mensch.

In dem Sanct Antonius-Spitale zu Paris befindet sich ein Mann, der für gewöhnlich Krankenwärterdienste leistet, aber allmonatlich einige Tage lang von so außerordentlichen Zufällen heimgesucht wird, daß in den an seltsamen Vorkommnissen wahrlich nicht armen Annalen der Medicin ein sonderbarerer Fall kaum verzeichnet sein dürfte. Die Krankheit leitet sich von einem Schusse her, welchen der Patient in dem mörderischen Kampfe bei Bazeilles, am Tage von Sedan, empfing. Die Kugel war durch das linke Schläfenbein gedrungen und auf die dort angerichteten Zerstörungen in der Hirnmasse erfolgte, wie gewöhnlich, eine Lähmung der Gliedmaßen auf der andern Seite des Körpers, also der rechten Hand und des rechten Fußes. Nach zwei Jahren einer sorgfältigen ärztlichen Behandlung ist diese halbseitige Lähmung beinahe vollständig gewichen; der Mann kann die meisten im Hospitale vorkommenden Arbeiten verrichten und entledigt sich seiner Pflichten in einer fröhlichen Gemüthsstimmung und mit der vollendetsten Gewissenhaftigkeit. Allein für ein bis zwei Tage im Monat geht eine geheimnißvolle Veränderung in diesem Körper vor sich, geheimnißvoll schon deshalb, weil sie ein gewöhnlicher Beobachter übersehen könnte. Der Mann steht auf, kleidet sich an, geht umher, nimmt seine gewöhnlichen Beschäftigungen auf, rollt seine Cigarette, raucht, ißt und trinkt.

Indessen bald fällt es auf, daß er bei seinem beständigen Umherlaufen unaufhörlich gegen Menschen und Dinge, die sich auf seinem Wege befinden, anläuft und erst nachdem der Zusammenstoß erfolgt ist, seitlich ausweicht. Man überzeugt sich, daß er mit weit geöffneten Augen nichts von den Dingen, die ihn umgeben wahrnimmt. Man ruft ihn an, er hört nichts; man bohrt ihm die Nadel in den Arm, er fühlt nichts; man versetzt ihm hinterrücks elektrische Schläge, er zuckt nicht. Bei genauerer Beobachtung fand man, daß der Zustand dieses Mannes demjenigen der sogenannten Nachtwandler gleicht, nur daß der Schlaf ein unendlich tieferer ist, da er durch kein Mittel aus demselben zu erwecken ist. Der einzige wachgebliebene Sinn, durch den er noch mit der Außenwelt verkehrt, ist das Tastgefühl der Hände und der Oberhaut überhaupt, während Gesichts-, Gehörs-, Geruchs- und Geschmackssinn schlummern.

Dafür klammert sich das ganze Innenleben dieses Menschen an den Tastsinn, und auf jede von demselben angeregte Empfindung spinnt sich automatenhaft eine Reihenfolge unter sich verknüpfter Thätigkeiten ab. Steckt man ihm ein Stück Cigarettenpapier in die eine Hand, so faßt er mechanisch mit der andern in die Westentasche, nimmt Tabak heraus, rollt eine Cigarette und setzt sie mit Hülfe eines Streichhölzchens in Brand. Bläst man ihm dasselbe aus, so setzt er wohl ein neues in Brand, macht aber niemals von einem ihm brennend unter die Nase gehaltenen Gebrauch, wenn man ihm auch fast den Schnurrbart anzündet, denn er sieht das dargebotene Hölzchen nicht. Seine Cameraden haben ihm statt des Tabaks Charpie unter die Hände gespielt; er hat damit seine Cigarette gefüllt und sie, ohne eine Miene zu verziehen, aufgeraucht. Ebenso verschlingt er, wenn man einen Löffel in seine Hand legt, Alles, was man ihm vorsetzt, seine Lieblingsspeisen ebenso wie Stückchen der abscheulich bittern Aloe oder der widerlichen Asa fötida.

Um zu ermitteln, ob bei diesem sogenannten Automatmenschen der Tastsinn auch ältere, nicht durch tägliche Wiederholung in Uebung erhaltene Muskel- und Nerventhätigkeiten anrege, begründete der Hospitalarzt Dr. Mesnet einen Versuch auf den Umstand, daß der Patient vor dem Kriege vielfach als Concertsänger in öffentlichen Localen aufgetreten war. Man legte ein Paar Handschuhe in seine Hände, die er sich sofort beeilte, anzuziehen. Nachdem dies geschehen, begann er mit den Händen umherzusuchen, das hingelegte Notenheft zu entfalten, sich zu verbeugen und dann gerade zu richten, wie Jemand, der vor einer Versammlung singen will. Ob er wirklich gesungen habe, ist in dem Berichte des Dr. Mesnet nicht klar ausgedrückt; für gewöhnlich pflegt er in diesem besonderen Zustande nur die Kinnladen zu bewegen, oder leise vor sich hinzumurmeln. Alles in Allem genommen, ergiebt sich also, daß dieser Mensch während seines Zufalles mit der Außenwelt nur durch den Tastsinn verkehrt, und daß die Kette durch Uebung verbundener Thätigkeiten, welche von demselben angeregt worden ist, einzig und allein nur durch Gewalt oder durch einen neuen Eindruck auf den Tastsinn unterbrochen werden kann. Wie weit diese Thätigkeiten mit einem gewissen traumartigen Bewußtsein etwa verbunden sein mögen, weiß man nicht, denn nach dem Anfalle bleibt keine Erinnerung an das während desselben mit ihm Vorgegangene in dem Automatmenschen, indessen mögen traumartige Gedanken in ihm aufsteigen, denn eine ihm in die Hand gedrückte Feder hat ihn eines Tages veranlaßt, Tinte und Papier zu suchen und einen ziemlich zusammenhängenden Brief über seine gewöhnlichen Verhältnisse zu schreiben. Das würde sich etwa den bewußtlos und ohne Erinnerung geführten Gesprächen der Schlafwandler vergleichen. Gewisse starke Erregungen brachten ihn auch zu plötzlichen Ausrufen. So warf er sich, als man einst ein ungeladenes Gewehr in seinen Arm gelegt hatte, plötzlich zu Boden, streckte den Kopf vor und rief, indem er mit den Händen die Patronen suchte: „Heinrich, da sind sie, ihrer zwanzig wenigstens, aber wir Zwei wollen mit ihnen schon fertig werden.“

Wir werden sehen, daß diese Beobachtungen, so seltsam sie

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 604. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_604.jpg&oldid=- (Version vom 21.5.2018)