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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

tadeln. Auch die Zuhörer, natürlich größtentheils aus Gläubigen bestehend, nahmen offen Partei für die entlarvten Betrüger und schienen es sehr hart und ungerecht zu finden, daß Buguet und Leymarie zu einem Jahre Gefängniß und fünfhundert Franken Strafe, Firman zu sechs Monaten Gefängniß und derselben Geldstrafe verurtheilt wurden. Fast will es uns scheinen, als ob die guten Leute mit ihrer Unzufriedenheit Recht gehabt hätten. Wenn Menschen so blindgläubig sind, daß sie sich von dreihundert Pappköpfen nicht überzeugen lassen, so geschieht ihnen doch am Ende Recht, wenn sie betrogen werden.




Praktische Vaterlandskunde.


Es war an einem der heißesten Julitage des vorigen Sommers, als ich, um mich vor der fast unerträglichen Hitze, die noch am späten Nachmittage in den Straßen Merans herrschte, so viel als möglich zu schirmen, in eine der schattigen Gartenwirthschaften trat, die, in der Nähe der rasch fließenden Etsch gelegen, durch ihre Baumgruppen und Rebengänge nicht minder als durch ihre kühlen Getränke Erfrischung bieten. Ich saß noch nicht lange da und betrachtete mir eben von meinem aussichtsreichen und doch zugleich schattigen Plätzchen aus die eigenthümliche Formation der südlich von Meran auf beiden Ufern der Etsch emporragenden Dolomitgebirge, als, nicht eben geräuschlos, eine staubbedeckte, sonnverbrannte Gesellschaft von zwölf Köpfen hereinkam, zehn durchgehends kräftige, derbe Burschen von siebenzehn bis achtzehn Jahren mit zwei Begleitern, von denen der Eine wenig älter als die jungen Leute war, der Andere im kräftigsten Mannesalter stand, Alle ohne Ausnahme mit Tornistern bepackt und mit derben Wanderstöcken bewehrt. Ich könnte nicht behaupten, daß die Reisegesellschaft eben salonfähig aussah; denn ihr Anzug verrieth auf den ersten Blick, daß die Leute tüchtige Märsche auf den staubigen Straßen Tirols gemacht hatten und wohl auch nicht sehr wählerisch waren, wenn sie sich irgendwo zu kurzer Rast hinstrecken wollten. Auch jetzt wählten sie nicht lange; nachdem sie sich ihrer Tornister und der Hüte entledigt und sich den reichlichen Schweiß von der Stirn getrocknet, reihten sie sich um den nächsten besten Tisch, und die erwartungsvollen Blicke nach der Bedienung bewiesen, daß das erwartete Getränk kein Luxus war. Das mundete! Das zweite Glas fast noch besser. Und nach dem dritten erklang aus den erfrischten Kehlen eines gut besetzten und gut geschulten Doppelquartetts, unbekümmert um die zahlreichen übrigen Gäste, ein kräftiges, melodiöses Schweizerlied, das von den Zuhörern mit Beifallklatschen und lauten Bravos honorirt wurde, woran sich selbst einige gemüthliche ältere österreichische Officiere lebhaft betheiligten. Hätte mir das Lied die Heimath der Sänger nicht verrathen, ich hätte sie an ihrer Mundart als Schweizer erkannt. Denn mit Ausnahme des ältern Begleiters, eines geborenen Deutschen, sprachen alle den Berner Dialekt, den ich ein Jahr vorher bei einem längeren Aufenthalte im Canton Bern einigermaßen kennen gelernt hatte, jedoch nur unter sich; ihrem Mentor gegenüber beflissen sie sich, hochdeutsch zu sprechen.

Während die jungen Leute sich der Lust des Gesanges und des lebhaftesten Gespräches über die Erlebnisse des Tages hingaben, hatte ich mit dem Lehrer eine Unterhaltung angeknüpft und erfuhr nun, daß die Gesellschaft aus Schülern der beiden obersten Classen der Berner Cantonsschule bestehe und auf einer Fußreise nach Venedig auf Staatskosten begriffen sei.

„Nach Venedig?“ fragte ich verwundert.

„Ja wohl, Herr Landsmann,“ erwiderte nicht ohne Stolz der Lehrer, „nach Venedig und zu Fuße; höchstens gedenken wir die kurzen Strecken von Botzen nach Trient und von Treviso nach Venedig auf der Eisenbahn zurückzulegen.“

„Und welchen Weg gedenken Sie von Trient aus einzuschlagen?“

„Wir werden, um nicht zu lange in der heißen venetianischen Ebene marschiren zu müssen, durch Val Sugana nach dem Piave gehen und diesem Flusse entlang nach Treviso hinabsteigen.“

„Wie aber sind Sie von Bern nach Meran gekommen?“

„Zu Fuße, auf dem geradesten Wege. Bei einer Station einige Stunden oberhalb Olten verließen wir die Eisenbahn, durchkreuzten die drei Parallelthäler des Aargaus, gingen aus dem Reußthale nach Zug und Schwyz, um das Muottathal hinauf und über den Pragel nach Glarus zu kommen; von da stiegen wir das Sernftthal hinauf und passirten den Risertenpaß, der uns in’s Rheinthal führte; von der Station Mayenfeld bei Chur gelangten wir in’s Prätigau und nach Davos, über den Flüelapaß in’s Engadin und über den Ofener- oder Buffalorapaß in’s Etschthal, und so sind wir nach heißen Tagemärschen von elf bis zwölf Stunden, allerdings nicht ohne Schweiß, nach Meran gekommen und hoffen, am vierzehnten Reisetage in der Lagunenstadt, dem fernsten Ziele unseres Marsches, einzuziehen. Uebrigens sind gegenwärtig noch mehrere Reisesectionen unserer Schule unterwegs, auf kürzeren und längeren Reisen begriffen.“

Da mich die Sache in hohem Grade interessirte und ich mehr über diese Schülerreisen zu erfahren wünschte, die Gesellschaft aber an demselben Tage noch einige Wegstunden in der Abendkühle zurücklegen wollte, theils um das vorgesteckte Tagesziel zu erreichen, theils um nicht in Meran mit seinen ziemlich fashionabeln Preisen übernachten zu müssen, so traf ich mit dem Lehrer die Verabredung, daß wir uns am folgenden Tage in Botzen wieder zusammenfinden und die Fahrt von da bis Trient gemeinsam machen wollten. Dies geschah pünktlich, und während der Fahrt und einer mehrstündigen Wanderung durch die Stadt der Concilien theilte mir mein Landsmann Folgendes über die Reiseeinrichtungen an der Berner Cantonsschule mit:

„Unsere Schule zählt acht Literar- und acht Realclassen. Sogenannte Prämien, mit Recht mehr und mehr verpönt, kennt man glücklicher Weise an unserer Schule nicht mehr. An ihrer Stelle sind die Schulreisen eingeführt worden, die schönste, dauerndste Belohnung, die einem Schüler als Andenken an die Schulzeit in’s Leben mitgegeben werden kann, und das wirksamste Mittel, das Vaterland in immer weiter sich ziehenden Kreisen kennen und immer bewußter lieben zu lernen. Das Recht, an diesen Schulreisen Theil zu nehmen, muß, damit sich dieselben zugleich als Disciplinarmittel erweisen, allerdings durch Betragen und Fleiß verdient werden, indem die Reiseberechtigung an die Bedingung geknüpft ist, daß der Schüler von den drei Nummern, welche die Rangabstufung für jene beiden Kategorien bezeichnen, mindestens Nummer Zwei aufweisen muß, um mitreisen zu können. Diese Einrichtung vermeidet aber gründlich die gehässige Seite der demoralisirenden Prämien dadurch, daß eine tiefere Nummer als Zwei überhaupt zu den Seltenheiten gehört und daß das Reisereglement ausdrücklich vorschreibt, daß, wenn irgend möglich, jeder Schüler einmal zur Theilnahme an der Reise jeder Section gelangen soll. Solcher Reisesectionen zählt die Literar- und die Realabtheilung der Schule je vier. Die unterste Section, von der siebenten Classe gebildet (die achte Classe muß sich im ersten Schuljahre die Reise erst verdienen), mit unbeschränkter Kopfzahl, macht einen eintägigen Ausflug; die zweite Section, zwanzig Schüler enthaltend und die Classen sechs und fünf umfassend, ist zwei Tage unterwegs; die dritte Section, aus Classe vier und drei rekrutirt und auf zwölf reisende Schüler beschränkt, reist sechs bis sieben Tage, und die oberste Section, ebenfalls zwölf Köpfe zählend und aus Classe zwei und eins zusammengesetzt, macht die ‚große Reise‘ von vierzehn Tagen. So wächst die Ausdehnung der Reise mit der Körperkraft und dem Verständniß der Schüler. Für sämmtliche acht Reisesectionen ist die Summe von dreitausendfünfhundert Franken ausgesetzt, ein Betrag, der völlig ausreicht, wenn auch nicht zu einer Luxusreise – und das sollen die Schülerreisen auch nicht sein – so doch zur Befriedigung der einfachen Bedürfnisse von Lehrern und Schülern. Wir aber bilden ausnahmsweise eine außerordentliche Reiseabtheilung, welche angewiesen ist, mit tausend Franken eine vierwöchige Abhärtungsreise zu machen, was uns hoffentlich, nach bisheriger Erfahrung, gelingen soll.“

„Und beschränken sich die gewöhnlichen Reiseziele ausschließlich auf das Vaterland der Schüler, oder überschreiten sie auch die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 509. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_509.jpg&oldid=- (Version vom 9.5.2017)