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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

die wir uns vom achten Jahre an in unseren gelehrten Anstalten erworben hatten, um den rechten Gewinn für Geist und Charakter aus dieser herrlichen Welt der Alten zu ziehen. Aber dann begreift man auch, wie ihre Wiedererweckung vor vierthalbhundert Jahren den Anstoß gab zum Sturze der theologischen Barbarei des Mittelalters, und zugleich wie Einem, der einmal mit Freude und Verständniß in dieser Luft geathmet hatte, die ähnliche Scholastik der rechtgläubigen protestantischen Theologie fast unmerklich und kampflos wie mürber Zunder vom Leibe fiel.

Von den Professoren war Oehler, der Orientalist, ausgezeichnet, als Mensch unbehülflich und eckig, als Theologe beschränkt, als Kirchenmann eifriger Pietist, aber als Lehrer in allen Fächern vortrefflich und gründlich, sei’s daß er Hebräisch oder Religions- und Kirchengeschichte oder Livius und Demosthenes oder Logik und Psychologie erteilte. Leider läßt sich das Gleiche von seinem Collegen nicht sagen, der vielmehr, zwar talentvoll, aber ohne alle Zucht des Gedankens und Charakters, mit Allem spielte, was er trieb. Die volle Hälfte der Thucydidesstunde z. B. verdarb er uns damit, daß er, anstatt den Schriftsteller mit uns zu lesen, die Reime und Knittelverse dictirte und auswendig lernen ließ, in welche er die Regeln der griechischen Sprache gebracht hatte. Ebenso setzte er die Weltgeschichte in lateinische Hexameter (der Anfang ist mir heute noch gegenwärtig: Adam, Seth, Enos, Kenan, Mahalaleel, Jared) und in ungereimte Formeln, mit denen er unseren armen Kopf plagte. Dieser ganzen Tändelei und geistigen Zerfahrenheit gegenüber befand ich mich in einer immerwährenden stillen Opposition und Verachtung, welche übrigens die Wurzeln des Geistes und Charakters vielleicht mehr genährt hat, als es der beste Unterricht im Stande gewesen wäre.

Zum Ersatz für das, was hier fehlte, fiel mir im letzten Jahre ein Schriftwerk in die Hand, dessen Einfluß auf meine ganze geistige Entwickelung ich nicht hoch genug anschlagen kann. Der damalige Repetent, der heutige Kanzler der Universität Tübingen, Rümelin[1], hatte der Classe, die uns vorangegangen war, in ihrem letzten Jahre, vor dem Abgange zur Universität, ein Heft dictirt, in welchem die Weltgeschichte im Geiste der „Philosophie der Geschichte“ von Hegel als der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, zugleich als das sich mit innerer Nothwendigkeit vollziehende Weltgericht dargestellt wurde. Das war kein Aufschichten von gleichgültigem Stoff, kein Sammelsurium von Anekdoten, kein Aufzählen von Namen und Schlachten, das war ein Kunstwerk, in welchem das Einzelne, soweit es von Bedeutung war, zu seinem Rechte kam, aber in das Licht der leitenden Idee erhoben. Da gingen der Orient, Griechenland und Rom, das Christenthum und das Germanenthum, das Mittelalter, die Reformation, die französische Revolution als die natürlichen Entwickelungsstadien der sich bildenden und reifenden Vernunft an der Betrachtung vorüber und wurden nach dem Beitrag, den sie an diese Arbeit der Geschichte abgegeben hatten, gewerthet.

Dieses Heft hatte mein Bruder in dem Pulte, das ich erbte, bei seinem Abgange zur Universität zurückgelassen, und das studirte ich nun gründlich. Da war Hegel in nuce, von seinen vielen Mängeln und Einseitigkeiten befreit durch die Verarbeitung eines grundgescheiten, klaren Kopfes und eines guten Schriftstellers. Was an der Hegel’schen Philosophie wirklich fruchtbringend und einflußreich gewesen ist, die Betrachtung des Weltganzen unter dem Gesichtspunkte einer stetigen und organischen Entwickelung, das hatte ich auf diese Weise längst losbekommen, ehe ich die Universität betrat; es wog ganze Bände verworrener und ungenießbarer Formeln auf, an denen ich mir später nutzlos den Kopf zerbrach.

Das Kloster hatte seine Pflicht gethan. Freundlich streckte die alma mater in Tübingen ihre Arme nach den harrenden und sehnenden Zöglingen aus. Es war freilich wieder eine Art Kloster, was uns winkte, das sogenannte Stift, aber doch etwas näher an des Lebens Quellen, etwas näher an den Brüsten der Wissenschaft.




Blätter und Blüthen.


Zur Feuerbestattungs-Frage. Wenn vielfach, und namentlich von amtlicher Seite her, gegen die Einführung oder Gestattung der Leichenverbrennung der Einwurf sich geltend macht, es würde der Justiz durch die Unmöglichkeit der Wiederausgrabungen ein wichtiges Mittel zur Feststellung von Verbrechen entzogen, so weisen jetzt die Widersacher der Friedhöfe darauf hin, daß durch die gesetzliche Einführung einer gründlichen Leichenschau eine volle Gewißheit über die Todesursachen schon vor der Hinwegschaffung der Verstorbenen erlangt und dadurch jenes traurige Geschäft der gerichtsärztlichen Thätigkeit überhaupt unnöthig gemacht werden könne. Ein von Wegmann-Ercolani in Zürich autographirt herausgegebenes „Internationales Correspondenzblatt zur Förderung der Feuerbestattung“ bemerkt neuerdings in dieser Hinsicht: „Wir werden doch nicht hinter der Sicherheit der englischen Todtenschauer (Coroner) zurückstehen, die auf eine bezügliche Anfrage erklärt haben, daß sie ohne Bedenken jede Leiche verbrennen lassen würden, deren Beerdigung sie bewilligt hätten?“ Auch in Amerika wird es mit der Feststellung der Todesursachen vor der Beerdigung sehr genau genommen, und der dortige Todtenschein enthält ein Fragenschema, dessen Beantwortung dem Arzte obliegt, der es dem mit dem Civilstandsregister betrauten öffentlichen Notar einzureichen und zu beschwören hat. Das Schema lautet:

„1. Wie lange haben Sie den Verstorbenen gekannt? 2. Welches war sein Beruf, seine Beschäftigung zur Zeit seines Todes? 3. Ort und Datum der Geburt? 4. Ort und Datum des Todes? 5. Geben Sie Namen und Beschreibung der letzten Krankheit des Verstorbenen an. 6. Wie lange war er krank? 7. Datum Ihres ersten Besuches? 8. Datum Ihres letzten Besuches? 9. Was für eine Krankheit war die unmittelbare Todesursache? 10. War der Verstorbene Ihres Wissens mit noch irgend einer acuten oder chronischen Krankheit behaftet? 11. Wenn ja, so bezeichnen Sie das Uebel, und wie lange er daran gelitten. 12. Ebenso ob dasselbe seinen Tod herbeigeführt oder beschleunigt hat. 13. Welches waren die allgemeinen Symptome, welche sich im Fortschreiten der Krankheit zeigten? 14. Lag irgend ein specieller Grund (älteren oder jüngeren Datums) für den Tod in den Gewohnheiten, in der Beschäftigung, in der Wohnung, in den persönlichen Erfahrungen oder Familienerlebnissen des Verstorbenen? 15. Wurde der Tod herbeigeführt durch ältere, oder unmittelbar vorangehende Vergiftung, durch gerichtliche Execution, durch Selbstmord oder Duell? 16. Hat eine Section stattgefunden? Wenn ja, geben Sie den Obductionsbericht. 17. Wie lange sind Sie der Hausarzt des Verstorbenen gewesen? 18. Welches war sein wirkliches oder scheinbares Alter?“

Die oben genannte „Correspondenz“ bemerkt hierzu: „Wir denken, es dürfte noch ein Theil dieser Fragen wegfallen, und wenn der Rest mit Gewissenhaftigkeit und Sachkenntniß beantwortet wird, so wird wohl die Verbrennung einer Leiche genügend gedeckt sein. Zu bemerken ist, daß auch die Lebensversicherungsgesellschaften bisher in keiner Weise der Agitation für die Feuerbestattung entgegen getreten sind, weil sie eben durch die gleichzeitig mit derselben zu erzielende genauere Behandlung der Krankheits- und Todesberichte ein besseres statistisches Material zu erhalten glauben.“ Wir theilen diese Gründe wider einen oftmals erhobenen und Vielen ganz besonders einleuchtenden Einwand mit, ohne hier entscheiden zu wollen, ob die bezeichneten und jedenfalls empfehlenswerthen Anordnungen wirklich in allen Fällen eine ausreichende Bürgschaft geben und in England und Amerika die gerichtlichen Wiederausgrabungen überflüssig gemacht haben.





Lehrer, Organist und Küster. Da wir uns hoffentlich der Zeit rasch nähern, wo der Lehrer nur Lehrer und nicht, wie leider bisher häufig, auch Organist und Küster zu sein braucht, erlaube ich mir, um die Nothwendigkeit hier einschlagender Reformen auch meinerseits zu beleuchten, zu diesem Thema eine der Wirklichkeit entnommene Illustration zu liefern.

R....e, ein kleiner Platz im Sauerlande, zählt ungefähr tausend Einwohner und besitzt nur eine einclassige Elementarschule, der ein fast siebenzigjähriger Lehrer vorsteht. Die Schule wird von hundertachtzig Kindern besucht, und der Lehrer bezieht einen Baargehalt von achtundsiebenzig und zwei Drittel Thalern, das heißt jedes Kind bezahlt zwanzig Silbergroschen Schulgeld.

Der Lehrer ist aber nicht nur Lehrer, sondern auch Organist und Küster. Dem Stundenplane gemäß beginnt die Schule Morgens um acht Uhr und soll bis zwölf Uhr währen. Aber sehen wir zu, wie es in Wirklichkeit um die Dauer der Schulzeit steht. Es ist Montag. Die Schule kann heute nicht um acht Uhr beginnen; denn es findet ein Begräbniß statt. Die Leiche wird aus dem eine Stunde entfernten Sterbehause um halb neun Uhr, oft auch später, gebracht und dann beerdigt. Der Lehrer, der hier den Küsterdienst verrichtet, muß bei dem nun folgenden Gottesdienste den Organistendienst versehen. Bis nun der Unterricht beginnen kann, ist es zehn oder halb elf Uhr geworden. Aber der Lehrer, der, wie gesagt, ein fast siebenzigjähriger Greis ist, fühlt sich von der fast zweistündigen Anstrengung sehr ermüdet, und was nun aus dem Unterrichte wird, kann man sich leicht denken.

Dienstag. Die Schule beginnt. Nachdem sie vielleicht eine Stunde gedauert, klopft Jemand. Auf das „Herein“ des Lehrers tritt die Magd des Pfarrers ein: „Herr Lehrer, Sie möchten rasch mit zum Kranken kommen.“

Der Lehrer muß die Schule schließen, denn der Kranke verlangt die Tröstungen der Religion. Aufgeschoben kann diese Handlung nicht werden, also muß die Schule wieder zurückstehen.

Mittwoch. Es findet eine Trauung statt und der Lehrer muß den Organisten- und Küsterdienst versehen. Die Schule beginnt um halb elf Uhr.

Wenn nun am Donnerstage womöglich noch eine Kindtaufe hinzukommt,

  1. Verfasser der bekannten Shakespearestudien.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 391. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_391.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)