Seite:Die Gartenlaube (1875) 366.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


New-Yorker Skizzen.
Von Alexander Wallner.
1. Eine Nacht unter „Outlaws“.
New-York das Eldorado der Verbrecherzunft. – Der Mörder Stupp. – Die Docks und ihre Schrecken. – Die Flußpiraten. – Die Räuber des Charlie Roß. – Die Fährbooträuber. – Der Polizeiagent Van Boskirk und eine Excursion in die Schlupfwinkel des Verbrecherthums. – Die Logirhöhlen. – Van Boskirk und die Falschmünzer. – Water-Street.

Jede große Seestadt, zumal wenn sie den Charakter einer Hauptstadt trägt, hat das wenig beneidenswerthe Glück, der Sammelplatz von Schaaren derjenigen Menschenclasse zu sein, die der Engländer so treffend mit dem Namen von „Outlaws“, das heißt, „außerhalb des Gesetzes Stehenden“, bezeichnet. Solche Großstädte bieten dem Verbrecher einen reichen Spielraum und die leichteste Gelegenheit, in dem täglich landenden Menschengewirr die eigne Spur zu verwischen und der verfolgenden Gerechtigkeit ein Schnippchen zu schlagen.

Neben London, der großen englischen Hauptstadt, ist von jeher der Boden der Vereinigten Staaten das Eldorado der Verbrecherzunft gewesen. Und unter allen Städten der Union ist New-York die begnadete, nach der sich der Strom dieser transatlantischen Einwanderung lenkt. Wer nur erst einmal hier gelandet und den noch verhältnißmäßig heißen Boden des Schiffes verlassen hat, dem ist es ein Leichtes, in dem Häuser- und Menschengewirr zu verschwinden, um von einem sicheren Orte aus die „Sache“ eine Zeit lang ruhig anzusehen und Gras über die Geschichte wachsen zu lassen.

Wenn jedoch das Verbrechen ein solches war, welches nur Blut sühnen konnte, wenn ein Mord das bange Gewissen des Schuldigen belastete, so trug ihn das Dampfroß nach dem fernen, uncivilisirten Westen, wo kein Mensch sich um seine Vorgeschichte kümmert. Hier, unter den Bewohnern der Wildniß, bedurfte es nur kühner, frecher Menschen, die vor Nichts zurückschreckten, die Nichts fürchteten. Alles Andere war Nebensache. Freilich haben in letzter Zeit theils der Telegraph, theils der Abschluß von Auslieferungsverträgen zwischen den verschiedenen Regierungen den Besuch des früher so sicheren Landes ziemlich mißlich gemacht und erschwert, und Mancher, der schon glücklich entronnen zu sein glaubte, wurde angesichts des rettenden Hafens festgenommen, wohl verwahrt und bewacht und mit eisernen Armbändern kostenfrei zurückspedirt.

So wurde Brüssel bekanntlich vor ungefähr einem Jahre durch eine grauenvolle That in Aufruhr versetzt. Der Chevalier de Bianco war ermordet in seinem Bette gefunden worden. Um jede Spur des Verbrechens zu verwischen, hatte der Mörder das Haus in Brand zu setzen versucht und war entflohen. Aber die schwarze That mißglückte. Der Leichnam verbrannte nicht, und der allgemeine Verdacht richtete sich sogleich auf den Kammerdiener des Ermordeten, einen gewissen Stupp. Als derselbe unter dem angenommenen Namen Vogt in New-York landete, wurde er sogleich festgenommen. Der Fall, so weit ein gewöhnlicher in der criminalistischen Praxis, wurde jedoch bald sehr verwickelt. Des Pudels Kern, der Vogt gestattete, so hartnäckig für seine Freilassung und für sein Leben zu kämpfen, ein Zufall, an den er sich wie der Ertrinkende an den Strohhalm klammerte, war folgender: Zur Zeit, als das Verbrechen begangen wurde, bestand zwischen Belgien und den Vereinigten Staaten noch kein Auslieferungsvertrag. Daher große Verlegenheit, als der belgische Consul die Auslieferung des Verbrechers verlangte. Nach langen Verhandlungen und nachdem die Anwälte des Beklagten eine enorme Summe von Scharfsinn und rabulistischen Kniffen aufgeboten, mußte der Richter, wenn auch mit schwerem Herzen, die Freilassung Vogt’s anordnen, und derselbe wäre gerettet gewesen, wenn sich nicht Preußens Consul in’s Mittel gelegt hätte. Zu seinem Unglück war der Mörder preußischer Bürger und Unterthan, aus Köln gebürtig, und da mit Preußen ein Vertrag bestand, so verlangte dieser Staat kraft desselben die Auslieferung. „Denn,“ hieß es in dem Antrage, „der preußische Unterthan sei dem Staate Rechenschaft schuldig für jedes von ihm, selbst im Auslande begangene Verbrechen.“ Der interessante Fall ist noch nicht erledigt, doch sollen die Actien für Vogt schlecht, sehr schlecht stehen. –

Obwohl nun mancher Verbrecher in New-York festgenommen und zurückspedirt wird, gelingt es dennoch einer großen Anzahl, durchzuschlüpfen und im Lande der Verheißung Hütten zu bauen, wo sie dann mit des Satans Hülfe ihr trauriges Gewerbe weiter treiben. Und es giebt wenige Städte der Welt, wo das Verbrechen so frech und ungescheut auftritt und wuchert, wie in New-York, wo viele dunkle, furchtbare Unthaten begangen werden, ohne daß „die Sonne sie an den Tag bringt“.

Einer der schlimmsten Tummelplätze des Verbrechens sind die New-Yorker Docks, welche die Stadt von Süden, Westen und Osten umgürten. Was hilft es, daß hier und da Polizeipatrouillen diese Gegend durchstreifen und viele Polizei-Agenten hier angestellt sind! Oede und finster, mit ihren zahllosen Schlupfwinkeln, liegen die Docks da. Die Wogen der Bai schlagen plätschernd an die ankernden, nach allen Welttheilen bestimmten Schiffe und nehmen gurgelnd die Unvorsichtigen auf, die sich hierher verlaufen und dem Verbrechen zum Opfer fallen. „Der Leichnam eines unbekannten Mannes wurde aus den Wassern der Bai gefischt,“ heißt es dann in den Zeitungen. Die Leiche wird in die Morgue geschafft, wo sie einige Tage liegt, ohne natürlich identificirt zu werden, bis endlich das Gericht die Todtenschau gehalten und den weisen Spruch abgegeben hat: „Tod durch Ertrinken“. Dann kräht kein Hahn mehr nach dem Todten, der ohne Sang und Klang begraben wird, während in der Ferne vielleicht ein angstvolles Mutterherz sich um den Verlornen grämt und abhärmt und lange Jahre hindurch hoffend und harrend die Rückkehr des Lieblings erwartet, der ihre einzige Stütze. Nie, nie mehr wird er in die sehnenden Arme der Mutter zurückkehren.

Auf den die Hafenstadt umgebenden Gewässern der Bai, des Hudson River und des East River, jenes schmalen Meeresarmes, der Long Island, die „lange Insel“, von dem Continente trennt, treiben die Flußpiraten ihr gesetzloses Handwerk. In stürmischen Nächten durchkreuzen sie in ihren kleinen, flinken Booten die Fluthen, stehlend, schmuggelnd oder raubend, und wehe dem, der sich ihnen in den Weg zu stellen versucht! Selbst der Hafenpolizei liefen sie bisweilen kleine Schlachten, in denen es selten ohne größeres Blutvergießen abgeht.

Zu den Schaaren derselben gehörten auch die beiden in diesen Tagen zu so großer Verrufenheit gelangten Hallunken Mosher und Douglaß, die frechen Räuber des kleinen Charlie Roß aus Germantown, der Vorstadt Philadelphias. Ungeheures Aufsehen in ganz Amerika hatte diese That gemacht, da sie am hellen Tage, gleichsam im Angesichte aller Bürger, ausgeführt worden war. So gut geplant hatten indessen diese Beiden das Verbrechen, daß sie trotz der eifrigsten Nachforschungen der gesammten Polizeimacht unentdeckt blieben. Am Tage in einer Spelunke von New-York verborgen, durchkreuzten sie in dunklen, stürmischen Nächten den East River auf ihrer kleinen Barke, mit seltener Keckheit ihre Verbrechen ausführend und den Raub auf einer der unzähligen kleinen Inseln des Sundes bergend. Endlich aber hatte auch ihre Stunde geschlagen. Bei einem Ueberfalle der Villa des Richters Van Brunt in Bay Ridge wurden Beide erschossen. Bis jetzt aber ist noch keine Spur des unglücklichen Knaben aufgefunden worden, dessen Vater dem Wahnsinne nahe ist. – Eine dritte Classe von Mördern – und diese sind die gefährlichsten – sind diejenigen, die auf den Fährbooten in der Nacht ihr fürchterliches Gewerbe betreiben. Wehe dem Leichtsinnigen, der sich mit goldener Kette oder einem in die Augen fallenden Goldschmucke aus der sicheren Kajüte hervorwagt! Im Nu wird er rücklings gefesselt und beraubt, und mit halb ersticktem Schrei stürzt der Ueberraschte über Bord. Wann wäre wohl je einer dieser zahlreichen Morde an’s Tageslicht gekommen? Das Boot fährt ruhig seine Bahn fort, und der Unglückliche ist verloren. Wieder giebt die Jury ihren Spruch ab: „Tod durch Ertrinken. Ursachen unbekannt“ – und Alles ist vorbei. –

Einen höchst interessanten Beitrag zu dem New-Yorker


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1875, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_366.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)