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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)

großem Aufwande von Rhetorik über die Epistel Pauli an die Römer, 13, 1–4, gepredigt hatte, die Beendigung meiner Haft vor Ablauf meiner Strafzeit ankündigte. Die Ordre aus Dresden war eine halbe Stunde vorher eingetroffen. Ich ließ mein Gepäck in Ordnung bringen und nahm Abschied von meinen Freunden und Gefährten. Noch ein kurzer Rundgang durch den Garten und in die katholische Kirche, die mir noch unbekannt war und in deren Vorhalle das Bild der bekannten Gräfin Cosel, wie mir der begleitende Aufseher mittheilte, an die Geschichte des galanten Sachsens erinnert – und ich stand wieder frei vor dem Thore von Schloß Hubertusburg, durch das ich vor Monaten als politischer Gefangener eingetreten war.

„Ah, Freiheit ist ein edles Ding!“, singt der alte englische Dichter Chaucer, und nie habe ich mehr die Wahrheit dieses Wortes empfunden, als in jener Sonntagsnachmittagsstunde vor dem Schloßthore von Hubertusburg. Die Einbuße der Freiheit und die mit einer Haft unvermeidlichen Beschränkungen und Entziehungen langjähriger Lebensgewohnheiten und Bedürfnisse sind für einen politischen Gefangenen schon so empfindliche Dinge, daß eine strenge Gefängnißordnung, wie sie für den gemeinen Verbrecher nothwendig, den Charakter einer unmotivirten Härte erhält.

Alle die zahlreichen Gefangenen, welche Schloß Hubertusburg beherbergte, sahen trotz der humanen und rücksichtsvollen Behandlung doch mit Sehnsucht dem Tage entgegen, der sie ihrer Familie, ihren Freunden, ihrem Berufe, in einem Worte, der Freiheit wieder gab.

Wir waren sammt und sonders Opfer jener Kämpfe für die Reichsverfassung. Heute ist die Hauptsache dessen, was die Bewegungspartei von 1848 und 1849 anstrebte, in der Verfassung des deutschen Reichs enthalten; heute entbehren wir zwar noch manche Grundrechte der 1849er Verfassung, aber wir haben doch die Grundlagen derselben: eine Reichsgewalt und ein Reichsparlament. So ändern sich die politischen Verhältnisse; so wechselt das öffentliche Recht der Völker.

Aber eben weil die politischen Zustände und das öffentliche Recht dem Wechsel unterworfen ist, sollten die Grundsätze der Humanität den politischen Gefangenen gegenüber unveränderlich und unabhängig von diesem Wechsel sein. Im Schloß Hubertusburg huldigte man diesem Grundsatze, und es gereicht mir zur Freude, heute, wo jene trüben Zeiten weit hinter uns liegen und die damals schwarzumhüllte Sonne nationaler Einheit und Freiheit wieder hell strahlt, davon Zeugniß ablegen zu können.

Karl Wartenburg.


Eine ertappte „Lateau“.

So lange das Urtheil der königlichen Akademie der Medicin zu Brüssel über die Wunderzeichen der Louise Lateau noch keine Beachtung und die Stigmatisations-Verherrlichung auf Seiten der Unfehlbarkeits-Gläubigen noch kein Ende gefunden hat, gehört dieser Gegenstand zum Register des Tags. Jenes Brüsseler akademische Urtheil kommt bekanntlich zu folgendem Schluß: „Louise Lateau arbeitet und verbraucht Wärme; jeden Freitag verliert sie ein gewisses Maß Blut durch die Wundmale. Bei ihrem Athem haucht sie Wasserstoff und Kohlensäure aus; ihr Gewicht hat nicht abgenommen, seit sie beobachtet wird; also verbraucht sie Kohlenstoff, ohne daß ihr Körper denselben verliert. Woher nimmt sie denselben? Die Physiologie antwortet: sie ißt. Die behauptete Enthaltsamkeit der Louise Lateau von allen Speisen läuft den Gesetzen der Physiologie entgegen; man braucht deshalb gar nicht zu beweisen, daß sie eine Erfindung ist. Wer behauptet, daß die Lateau außerhalb dieser Gesetze stünde, muß es beweisen. Bis dahin hält die Physiologie diese Behauptung für ein Märchen.“ – Der Bericht der Akademie verlangt nun vor Allem, daß die Lateau nicht bloß am Tage, sondern auch Nachts von Männern der Wissenschaft beobachtet werde. Was nützt es, fragt derselbe, dem Betruge elf Pforten zu schließen, wenn die zwölfte offen bleibt?

Besser, als die dermalige belgische, wußte vor sechsundzwanzig Jahren die Regierung des Schweizercantons Zug diese zwölfte Pforte zu verschließen.

Unweit des Zuger Bergs Gubel, auf welchem in den Reformationszeiten ein katholischer Sieg über die Protestanten geschehen und eine alte Schlachtcapelle und ein neues Nonnenkloster steht, liegt das Bergdorf Menzingen. Dort lebte ein Mädchen, Theresia Städele, von welchem Anfangs Mai 1849 das Gerücht ging, daß es jeden Donnerstag und Freitag das Leiden Christi mit allen Wundmalen der Kreuzigung durchmache. Auch hier hatte ein Geistlicher, der Herr Pfarrer Joh. Jos. Röllin, allerdings auf höhere Empfehlung, sich des Wunders sofort angenommen, indem er dem Mädchen in seinem Pfarrhause eine Zufluchtsstätte gab und über die willkommene Erscheinung sein feierliches „Credo“ sprach. Nun begann das Herbeiströmen des Volkes zu dem neuen Mirakel, dessen Verlauf so ziemlich in derselben Weise, mit Ekstase, Blutung und Essens-Enthaltung der Stigmatisirten, wie bei der Lateau, von Gläubigen und Zweifelnden gesehen und geschildert wurde. Aber schon am siebenzehnten Mai erschien im Menzinger Pfarrhaus ein Polizei-Commissär mit einigen Aerzten und Conventualen des Kapucinerklosters in Zug, und sofort kam, gleich bei der ersten Untersuchung der Theresia durch die genannten Herren, das Wunder der Blutung in Stocken. Vier Tage später brachte man sie in gerichtlichen Gewahrsam, und noch vor dem Ende des Monats begann die Auflösung der Wundergeschichte.

Welch außerordentliche Mühe Herr Pfarrer Röllin sich gegeben, um mit dem Theresia Städele-Wunder das Mögliche zu leisten, ist aus dem „Pfarramtsbericht“ zu ersehen, welchen er dem Polizei-Commissar beim Beginn der Untersuchung überreichte. Derselbe zeichnet sich auch durch eigenartige Rechtschreibung aus, wenn auch nicht in so starkem Maße, wie die schriftlichen Beichtberichte der „Heiligen“.

„Am 8. Sept.“ – schreibt u. A. der Herr Pfarrer – „nahm sie (die Städele) ohne Erlaubniß vorher eingeholt zu haben einen Apfel und darauf zeigten sich heftige Leiden in der Persohn. Wie sie sonst heiter und fröhlich war, war sie ganz wild und scheu und machte fürchterliche Augen, so daß ich ahnte es möchte der Dämon wieder auf sie Gewalt bekommen haben.“ (NB. Einschalten müssen wir hier, daß die Städele vorher schon in der Behandlung der berühmten Teufelsbanner von Maria-Einsiedeln gewesen und von diesen der Obhut des Pfarrers übergeben war; denn er berichtet darüber buchstäblich: „Ich wußte gar nicht, was mit dieser Persohn geschehen sollte, als was mir der Hochw. Dekan Athanasius und Pater Stephan mitgetheilt hatten. Sie waren der Beglaubigung sie sey ganz frey vom Satann, und mir schien es auch, weil gar Nichts zu sehen und wahrzunemmen war. – Die Herren sagten mir, es werde nach Aussage des Satanns eine düchtige Persohn werden, und sie sey gewiß zu Großem beruffen.“) Und nun lassen wir unsern Herrn Pfarrer im früheren Text weiter fortfahren. „Nach Anweisung der hochw. Herren in Einsideln machte ich den Befehl – und der Teufel sprach aus ihr und bekannte selbst die Ursache, warum er über sie Gewalt bekommen. – In diesen Zeiten tobte und wüthete der Satann oft fürchterlich und besondere Wuth äußerte er gegen das Gubelkloster, welches er nur ‚den Keffig droben‘ nannte. Er bekannte ohne Aufforderung oft, es sey der Wille des ob uns, daß dies Kloster erbaut werde und daß es jetzt wirklich solle angefangen werden, er wolle es aber doch verhindern etc.“

Wenn wir hier nun verrathen, daß dieser Herr Pfarrer selbst der eifrigste Betreiber des Klosterbaues auf dem Gubel „zum Dienst der ewigen Anbetung“, und daß es, wie wir später sehen, der Lieblingsgedanke der Städele war, in diesem Kloster eine Stätte für sich zu finden – so wird auch der praktische Zweck offenbar, den Beide mit ihrem Wunder und Wunderglauben verfolgten.

Da der Teufel die Klostergedanken der Städele jedenfalls längst herausgewittert hatte, so richtete er gegen sie auch immer gefährlichere Angriffe. Namentlich versuchte er sie zum „Selbstmord“ und zum „Heirathen“. Und wie galant fing er letzteres an! Man lese, was Theresia selbst am 21. Januar 1849 darüber als Beichte niederschrieb: „Von 9 –10 Uhr ist ein Härr gekommen; er war schön und Reich gekleidet. Seine erste Antwort

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_355.jpg&oldid=- (Version vom 13.12.2016)