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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Fleck, im schlimmsten Falle eine Droschke, jetzt aber ein Zank – ist denn das nicht weit ärger?“

„Tante, Großtante, auch Du nimmst Partei gegen mich?“ rief bestürzt das erschreckte Kind. „Papa hat es nur mit der größten Mühe, mit Selbstverleugnung und Anstrengungen aller Art, überhaupt möglich machen können, mich zu Dir reisen zu lassen, weil Georg hier wohnt. Ich weiß, welche Opfer es ihm kostet, deshalb –“

Die Alte unterbrach das erregte Mädchen. „Ich sprach nur von der Art und Weise, in der Du gegen Deinen Verlobten auftratest, mein Herz. Das Kleid ist eine Kinderei, eine Thorheit, die er über den ersten zärtlichen Blick vergessen hätte, aber Deine Worte waren ganz geeignet, ihn tiefer zu verstimmen.“

Mathilde sah auf ihre Hände herab, und antwortete im ersten Augenblicke nicht.

„Tante,“ fragte sie nach längerer Pause, „sag’ mir, muß ein Mädchen, das überall nur das Gute und Vernünftige will, außerdem auch noch nachzugeben und einzulenken verstehen, wo ihr geradezu Thorheiten entgegentreten?“

Die Achtzigjährige nickte freundlich.

„Sie muß es, mein Herzenskind. Ein Mädchen muß sich immerfort die Liebe, welche ihr zu eigen gegeben, ängstlich zu erhalten suchen, als könne solches Gut verloren gehen. Das ist das große, schwererlernte Geheimniß des Frauenglückes. Die Liebe will genährt und gepflegt sein, behütet in jeder Minute. Die Jugend glaubt zwar, daß Liebe nicht sterben könne, während Eigensinn und starrer Trotz nirgends im Leben häufiger gefunden werden, als gerade bei Liebenden.“

Mathilde sah, lächelnd durch Thränen, empor.

„Großtante,“ sagte sie leise, „es jubelt Alles in mir vor lauter Glückseligkeit, wenn ich sehe, daß Georg nachgiebt. Es ist so überaus angenehm, ein Herz ganz zu beherrschen. Und glaub’ mir’s, ich liebe ihn nie mehr, als wenn ich trotzige Worte sage. Gott weiß, woher jedesmal ein böser Wind weht, sobald von Ordnung oder Arbeiten oder Sparen die Rede ist! Ich habe oft gedacht, daß für Georg eine ganz leichtlebige Frau weit passender sein würde, als ich es bin.“

„O, Kind – Kind, wie thöricht!“ sagte die Alte. „Du mußt Dich in ihn hineinleben, und was er nicht liebt, ihm verbergen, was er nicht gern hört, verschweigen, das ist der Weg zum äußeren und zum inneren Frieden.“

Das junge Mädchen war ernst geworden durch den Ernst der Alten.

„Großtante,“ fragte sie leise, „woher weißt Du das Alles? Kanntest Du ein Mädchen, das nicht verstand, sich die Liebe des Verlobten zu erhalten, und das – diese Liebe verlor?“

Ueber das bleiche Gesicht der Achtzigjährigen flog ein leichter Rosenschimmer, schnell verschwindend, wie der scheidende Sonnenblick die grauen Mauern einer Ruine secundenlang mit Glanz und Jugendschein umhüllt.

„Ja, mein Liebling, ich kannte ein solches Mädchen, und – ich will Dir seine Geschichte erzählen.“

Mathilde sah unverwandt in das ehrwürdige, von silbernem Haare umrahmte Gesicht der Alten.

„Großtante,“ rief sie, „nein, ich täusche mich nicht, es ist Deine eigene Jugend, von der Du sprechen willst. Du, die Du so gut, so lieb bist, die Hülfe und der Trost aller Bedrängten, Du wärest betrogen worden? – O, ich kann es nicht glauben, nicht denken.“

„Still, mein Liebling!“ lächelte die Greisin, „still! Ich bin nicht betrogen worden – das ist ein hartes, schlimmes Wort – ich verstand es nur nicht, meinen Schatz zu hüten, daher blieben mir die traurigen Folgen später nicht aus. Komm, Du kannst, wie in einen Spiegel, in Dein eigenes Schicksal hineinsehen, wenn ich Dir von dem meinigen erzähle.“

Mathilde schmiegte sich gerührt an die Brust der greisen Freundin, und diese küßte sie zärtlich, bevor sie ihre Geschichte begann. Das junge Mädchen lauschte regungslos der seltsamen Verkündigung des Glühendsten, Gewaltigsten, was das Menschenleben birgt, aus dem Munde der Achtzigjährigen.

„Ich wurde sehr jung verlobt,“ begann die Großtante, „und noch dazu mit einem Manne, der nicht älter war, als ich selbst. Das ist immer ein Unglück, zumal wo nicht Reichthum die Wege ebnet und Alles gleich macht, bei mir aber kam noch hinzu, daß ich nicht hübsch war und auch kein gefälliges liebenswürdiges Wesen besaß. Mir hatte es eben der Himmel in anderer Weise geschenkt: ich verstand zu sparen, hauszuhalten und mit Wenigem auszureichen, das, meinte ich denn, sei genug, und ich gab mir keine Mühe, auch eine angenehme Außenseite zu erwerben.

Mein Bräutigam und ich waren immer bei einander geblieben von den Schuljahren her, wenigstens in einer Stadt. Er mußte sich seinen Weg als Commis in fremder Leute Dienst sehr mühevoll bahnen, während ich die Haushaltung meiner alten Mutter führte und zusammen mit ihr durch Unterricht in einer von uns gegründeten Schule für Kinder das tägliche Brod verdiente. Nur an Sonntagen sahen wir einander, und dann wurden Pläne für die Zukunft entworfen, dann sprachen wir von unseren Hoffnungen, unseren Wünschen, und waren glücklich trotz Armuth und Mangel.

So ging es, bis ich achtundzwanzig Jahre zählte, da endlich schien das Schicksal uns in den Hafen führen zu wollen. Mein Bräutigam hatte, obwohl ich immer so heftig dagegen protestirte, heimlich in der Lotterie gespielt und etwa sechstausend Thaler gewonnen – jetzt konnten wir heirathen.

Schon seit elf Jahren wußten die Nachbarn, daß ich Braut sei. Wie oft schon hatte mir das Wort heimliche Thränen erpreßt; wie oft hatte ich alle Hoffnung aufgegeben, und nun kam das Glück so plötzlich.

Ich sollte ‚Frau‘ genannt werden, ‚Frau Herbold‘ – o dies Entzücken! Mein Verlobter miethete einen Laden in der besten Geschäftsgegend und schaffte Waaren in’s Haus, während ich meine Aussteuer nähte. Er kannte alle Bewohner der Stadt; man versprach ihm überall seine Kundschaft und die Sache schien im besten Zuge, sogar der Hochzeitstag war schon festgestellt. Nur Eines erregte sehr häufig zwischen uns Beiden einen Zwist, und das war meine Sparsamkeit.

‚Nimm diesen Stoff für die Handtücher!‘ sagte er einmal, ‚das Stück ist billig gekauft.‘

Ich protestirte heftig. ‚Das thut für uns nicht nöthig, Hermann; wir können mit Geringerem auskommen. Hast Du billig gekauft, so verdienst Du desto mehr daran.‘

‚Ja, beste Hanne,‘ rief er, ‚aber man soll doch auch dem Dienstmädchen gegenüber ein Bischen auf das Aeußere halten – man wird beklatscht.‘

‚Wir werden nie ein Dienstmädchen haben, Hermann,‘ rief ich entrüstet aus.

‚O doch, Liebe, das geht nicht anders. Wolltest Du etwa früh um sechs Uhr die Treppensteine und den Laden eigenhändig scheuern? Wollten Du Wasser tragen und Holz spalten?‘

Ich sah ihn erstaunt an. ‚Thue ich das nicht etwa jetzt auch persönlich, Hermann?‘

‚Freilich, Hanne, aber das ist eine andere Sache,‘ lächelte er. ‚Als meine Frau mußt Du ein Mädchen halten, sonst werden Rückschlüsse gezogen, die meinen Credit benachtheiligen müßten.‘

Jetzt weinte ich bereits. ‚Hermann, Hermann, Du denkst, daß die sechstausend Thaler ein Vermögen sind, welches niemals erschöpft werden kann. Gieb Acht, wenn Du so fortfährst, so steht der Concurs vor der Thür.‘

‚Gott im Himmel!‘ rief er. ‚Aber Du verstehst es, Jemand von Allem die schlimme Seite zu zeigen! Das ist leider wahr, Hanne.‘

Wenn derartige Kleinigkeiten dann gründlich besprochen und meistens ein Vergleich zu Stande gekommen war, so wurden sie für den Augenblick vergessen, aber Jedes von uns hütete sich, irgend einen Plan, einen Wunsch zu äußern, weil ja leider so selten eine Uebereinstimmung der Ansichten zu erlangen war. Als wir noch ganz arm waren, bauten wir einträchtig an unseren Luftschlössern, jetzt aber, auf der Basis jener sechstausend Thaler, ließ sich kein Zusammenwirken mehr denken.

Um diese Zeit starb der Bruder meiner Mutter und hinterließ eine siebenzehnjährige unversorgte Tochter, die er auf dem Todtenbette unserer Sorgfalt empfahl. Das paßte gerade, weil meine alte Mutter doch für Schule und Haus einer Stütze dringend bedurfte, und so holten wir denn die Cousine eines Sonntags aus der Hauptstadt zu uns, damit sie sich in den Kreis meiner täglichen Verpflichtungen hineinleben könne, bevor ich heirathete.

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