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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


sein kann. Denn dieses kirchliche Bekenntniß vom Falle Adam’s an bis zum Amte der Schlüssel, das die Macht haben soll, Sünden zu vergeben und zu behalten, und dieses Gelübde, dem Teufel und allen seinen Werken zu entsagen, dürfte man sechszehn- oder siebenzehnjährigen Jünglingen und Jungfrauen – in dieses Lebensalter fällt die Confirmation in Ländern reformirten Bekenntnisses – sich kaum mehr erlauben abzunehmen.

Den zweijährigen Unterricht erhielt ich mit etwa hundert Knaben und Mädchen, die im gleichen Schulzimmer zusammengedrängt waren, von dem rechtgläubigen – das versteht sich im Schwabenlande von selbst – aber milden, gemüthsreichen und humanen Decan der Stadt. Man befand sich freilich im Allgemeinen im Dunstkreis der Orthodoxie, aber ihre Spitzen und Kanten verbargen sich in einem leichten Nebel. Der Unterricht war vorherrschend gemüthlich und erbaulich, die Ansprache an’s Herz, an den Willen die Hauptsache, unterstützt von schönen Erzählungen aus dem Lebensgange hervorragender Männer und Frauen. Die Confirmationshandlung selber wollte der Vater an mir vollziehen. Denn die Confirmation ist, wie die Taufe, zugleich ein Familienfest. Leider brachte nur ich selbst kein festliches Gefühl in mir zuwege. Ich war gar nicht zur Andacht zu stimmen. Am Morgen des Festtages stieß man mich in ein Zimmer und gab mir Gebetbuch und Gesangbuch in die Hand; da sollt’ ich lesen und beten. Aber es wollte nicht gehen; Augen und Gedanken schweiften über die grünende Landschaft. Als die Glocken erschallten, ging ich, den entlehnten Cylinder, der auf den Kopf nicht paßte, in der Hand, in die Kirche und reihte mich in die Schaar der nahezu zweihundert Söhne und Töchter, von denen ich Niemand kannte. Das Hersagen des Confirmandenbüchleins, das sehr geschickt und populär die ganze Kirchenlehre in Frage und Antwort gestellt hat, wobei auf ein jedes Kind die ihm vorher bestimmte, in Schlaf und Wachen, unter Angst und Zagen oft repetirte Antwort fiel, dann das Vortreten an den Altar, das Knieen auf der untersten Stufe, der Denkspruch und der Segen, hundertsiebenzig Mal wiederholt – das Alles war nicht geeignet, das Herz fromm zu stimmen. Aber als vollends die Reihe an mich kam und der Vater mir den Denkspruch aus 1. Timoth. 6, 20: gab: „Meide das Gezänke der falschberühmten Kunst“ etc., da war ich im tiefsten Herzen beleidigt. Wodurch hatte ich mir denn diese Warnung vor der Philosophie zugezogen? Am andern Tage reiste ich wieder zur Schule, zu Fuß einen Weg von sieben bis acht Stunden. Hier war mein Damaskus; hier vollzog Gott selbst in der Einsamkeit die Confirmation an mir. Ein ganzer Himmel von seligen und niederbeugenden Gefühlen drang auf mich ein. Lust und Weh wogte in der Brust auf und ab; ich betete und weinte im Gehen. Die Welt lag so groß und weit vor mir. Baum und Feld vernahmen die heiligsten Schwüre und die heißesten Gelübde.

Die Confirmation war vorüber. Noch ein halbes Jahr, und das Landexamen stand vor der Thür. Landexamen, du Donnerwort, in wie viele Schulen und Familien hast du alljährlich Hoffnung und Furcht, Glück und Schrecken gebracht! Landexamen? Aber wurde denn das ganze Land examinirt? Nein! nur die Nasiräer, die von Kindheit an für das Reich Gottes im Dienste der Kirche bestimmt waren. Aber bei der hohen Stellung, welche einst die Kirche einnahm, war dies eine wichtige Staatsaction, die wohl verdiente, daß sich die Aufmerksamkeit des ganzen Landes darauf richtete, während von einem Jünglinge, der sich auf die Medicin oder die Jurisprudenz oder auf die Naturwissenschaft vorbereitete, natürlich kein Mensch sprach und keine Zeitung berichtete. Und weil, die befähigt erfunden wurden, ihre Studien unentgeltlich auf Kosten des Staates vollenden konnten, drängten sich alljährlich Hunderte aus allen Landestheilen herbei, und in den Schulen schaffte es, und in den Pfarrhäusern zumal und in vielen andern Familien betete es auf dieses wichtige Ereigniß hin. Und damit der Stoff recht tüchtig gerathe, mußte er früher eine dreimalige, zu meiner Zeit nur noch eine zweimalige Durchsiebung passiren; der entscheidenden Prüfung, die in’s vierzehnte Lebensjahr fiel, gingen Vorprüfungen im zwölften und im dreizehnten Jahre voran. Da kamen sie denn im Omnibus und in Landkutschen von allen Farben in die Residenz angefahren, die hoffnungsvollen Adepten der Gottesgelehrsamkeit mit ihren Lehrmeistern, und die Jungen der Hauptstadt riefen den Ankömmlingen ihr höhnendes: cujas es? cujas es? (woher bist Du?) entgegen. Da war ein Gerusel und Gedränge im Gasthofe zum Hirschen, der als das privilegirte Hôtel der Landgeistlichkeit galt. Das war ein Händeschütteln und Grüßen der alten Studienfreunde, die einander ihre Söhne vorstellten und ihre Lebensgeschichte erzählten, nachdem sie sich seit den Universitätsjahren nicht mehr gesehen. Dann ging’s in die Prüfungssäle; die Prüfungen waren mündlich und schriftlich; die biblische Geschichte und die Sprachen bildeten die Hauptgegenstände. Draußen auf den Corridoren warteten die Väter und Präceptoren. Kam der Junge nach Ablieferung seiner Arbeit heraus, so stürzten sie auf sein Concept los und verschlangen’s mit ihren Augen, ob er’s recht gemacht habe.

Da ist mir beim ersten Landexamen etwas Schlimmes passirt. „Ich weiß nicht, wie es kommt, aber die Erfahrung bestätigt es, daß …“, so begann das Stück, das uns zum Uebersetzen in’s Lateinische vorgelegt worden war. Lange hatte ich geschwankt, ob ich das „daß“ abhängig machen sollte von dem Satze: „Ich weiß nicht, wie es kommt,“ oder von dem andern: „Die Erfahrung bestätigt es;“ endlich entscheide ich mich für das Erste, betrachte das Zweite nur als Parenthese und setze ut.

„Um Gotteswillen, was hast Du gethan?“ rief der Präceptor, nachdem er mir beim ersten Heraustreten das Blatt aus der Hand gerissen und den Blick auf den ersten Satz geworfen hatte. „Ut nach einem Verbum sentiendi und declarandi? Man möchte aus der Haut fahren!“

All’ mein Erklären und Entschuldigen half Nichts; er kratzte im Haar; er stampfte mit dem Fuße und beruhigte sich erst, als er das Uebrige fehlerfrei und in gutem ciceronischem Latein fand.

So Etwas durfte zum zweiten Male nicht vorkommen. Darum wurde darauf los geschafft, auch die dreiwöchentlichen Sommerferien wurden geopfert und Roth’s lateinische Stylübungen bis zu Ende durchgepaukt. Die Scheidestunde kam – ich sollte mit dem Vater in R. zusammenstoßen und mit ihm nach Stuttgart gehen. – Der Präceptor, der diesmal nicht mitging, las mir vor der ganzen Schule im Stolz auf seine Leistungen die Noten herunter, die ich im Examen erhalten würde (Latein: recht gut, Griechisch: gut bis recht gut, Hebräisch: gut bis recht gut), dann begleitete er mich beim Abschied. Als ich die Thränen aus den Augen gewischt hatte und von der Höhe des Hügels den letzten Blick auf die Stadt da drunten warf, in der ich fünf Jahre zugebracht hatte, war mein Herz voll Dankes; denn es war doch trotz Allem schön gewesen.




Eine Nacht auf dem Moor.


Zu beiden Seiten der kürzlich eröffneten Bahn von Bremen nach Hamburg breitet sich etwa auf der Mitte des Weges, zwischen den Stationen Scheeßel und Tostedt ein bedeutendes Moorgebiet aus, dessen östlich gelegener abgeschlossener Theil fiscalisches Eigenthum ist, im Volksmunde den Namen „Königsmoor“ führt und mit den Mooren der angrenzenden Ortschaften einen Flächenraum von mehr als einer Quadratmeile umfaßt. Eingeschlossen wird diese weite ebene Flüche von niedrigen Ausläufern des Lüneburgischen Haiderückens, an deren Fuße sich im Norden und Westen die trübe, braune Wümme, im Süden die kleine Fintau, ein Nebenflüßchen jener, herumwinden und so die engere Einfassung bilden.

Auf diesem öden Landstriche habe ich vor mehreren Jahren eine Nacht verlebt, die nie aus meinem Gedächtnisse schwinden wird und deren einzelne aufregende Augenblicke noch heute ebenso klar wie damals vor meiner Seele stehen. – Aber ehe ich zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 287. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_287.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)