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verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


gehen die Vortheile der Angewöhnung wieder verloren. So gewöhnen sich und blühen Camellien leicht im Zimmer, wenn sie immer darin bleiben, werfen aber meist die Knospen ab, wenn man sie nur im Winter in das Zimmer bringt. Von den prächtigen Dracänen verlieren bald nach dem Ankaufe mehrere großblättrige Arten im Zimmer die Blätter und scheinen unrettbar verloren. Pflegt man sie aber sorgfältig, so bilden sich erst kleine, dann immer größere Blätter, und zuletzt kann man sie zu so üppigen Pflanzen heranziehen, wie im Gewächshause.

H. Jäger.




Bis zur Schwelle des Pfarramts.[1]
2. Zu der Lateinschule.

So war er denn eingefangen, der Wildfang in Thal und Höhen. Statt der weiten und freien Ebene des langgestreckten Dorfes umfing ihn die Enge der Stadt, gewiß für den Reisenden von heute, den der Schnellzug von Schaffhausen nach Stuttgart hindurchführt, romantisch genug mit ihrem Neckar, der sie in zwei Theile theilt, mit ihrer Burgruine, mit ihrem „gähnenden Stein“, mit ihren waldbewachsenen Höhen, aber für den, der hier weilen muß, doch im Grunde ein Loch, nach allen Seiten mit Hügeln verbaut, und drückend für die weite Brust eines freiheitslustigen Knaben. Und erst das Schulhaus, in welchem ich mich mit zwanzig bis dreißig Zöglingen des Präceptors einlogirt fand! Ein altes, unwohnliches, dunkles Haus, zwischen die Kirche und den jähansteigenden Berg eingeklemmt. Im unteren Stock nebst einem kleinen Anbau beschäftigte sich die gesammte deutsche Jugend vom sechsten bis zum vierzehnten Lebensjahr in drei Schulzimmern; von Realschulen, von Gewerbeschulen, von Arbeitsschulen für die weibliche Jugend und Aehnlichem hatte man damals noch keine Ahnung in einer Stadt, welche den Sitz für Oberamt und Oberamtsgericht hergab. Die Töchter hielt man damals noch für weise und klug genug, wenn sie in der biblischen Geschichte beschlagen waren und lesen, schreiben, rechnen gelernt hatten.

Wer von den Knaben noch Etwas hinzulernen wollte, den gab man in die Lateinschule, für welche im zweiten Stock gesorgt war, heute in ihren engen Räumen kaum genügend für die Ansprüche einer anständigen Familie, damals zugleich die Wohnung für die Präceptoratsfamilie und ihre circa dreißig Alumnen, und der Schulraum für siebenzig bis achtzig Lateiner. Welcher Geist in diesen Schulzimmern herrschte, das zeigte dem Eintretenden sofort eine weitleuchtende, an der Wand mit großen Buchstaben angebrachte Inschrift: „ut mit dem Indicativ kostet sechs Tatzen“. Das hieß zum Voraus: 1) Hier gilt um Latein mit dem Anhang von Griechisch und Hebräisch für diejenigen, die sich für eine wissenschaftliche Laufbahn vorbereiten wollten), 2) das Latein muß mit allen Mitteln eingebläut werden, und Haselstöcke wachsen genug an den gebüschreichen Halden. Wohl trieb man neben den alten Sprachen auch Anderes, wie Arithmetik, Geographie, Geschichte, Botanik, Französisch, aber dafür waren verhältnißmäßig nur wenige Stunden angesetzt, und es waren nicht die Fächer, die der Lehrer mit Lust und Verständniß betrieb, und endlich, was die Hauptsache war, man legte keinen Werth darauf; man taxirte keinen Schüler nach dem, was er in diesen Nebenfächern leistete. Das Proloco (für den Platz) war das allein Entscheidende; so nannte man das Stück, das wöchentlich aus dem Deutschen in's Lateinische übersetzt wurde. Nach einiger Zeit wurde die Zahl der Fehler, die Jeder in diesen Uebungen gemacht hatte, zusammengezählt und danach der Platz in der Classe bestimmt. Mochte Einer in allen anderen Gebieten noch so unwissend sein, hatte er nur die wenigsten Fehler im Proloco, so war er der Primus in der Classe, zu dem alle Anderen mit Neid und Respect aufschauten.

Diesem Schulideal entsprach vollkommen der Schulmonarch. Der Mensch ging auf im Schulmann und der Schulmann im Lateiner und Griechen, wie er denn seinen deutschen Namen gern mit dem entsprechenden griechischen Ophthalmos vertauschte. Er hatte nur zwei Leidenschaften: Liebe zu seinem Fach und Ehrgeiz, den Ehrgeiz, seiner Schule den Ruhm der besten im Lande zu erwerben und es dahin zu bringen, daß Alle, die von da aus in das Landexamen einträten, darin glänzten. Beseelt von diesem Ziele, verzichtete er so zu sagen auf jeden Lebensgenuß und that weit mehr, als gefordert wurde. Im Sommer stand er schon Morgens um sechs Uhr im Feuer mit Denjenigen, die er auf höhere Schulen vorbereitete, dann kamen vier Stunden – unter Beihülfe eines Collaborators – mit allen Classen, Abends nach Schluß der obligatorischen Stunden wieder Privatstunde mit denselben Vorgerückten, in den Winterabenden Aufsicht über die Privatarbeiten seiner Hauszöglinge, Uebertragung von Goethe’s Hermann und Dorothea in lateinische Hexameter mit einigen Auserwählten, Vorlesung des Märchens vom Rübezahl oder des Robinson Crusoe nach Campe u. A. Kurzum kein Genuß, keine Ruhe, keine Erholung für sich; sogar die Ferien opferte er, wenn das Landexamen vor der Thür stand, und behielt die Schüler zurück, um sie täglich zu unterrichten. Und das Alles bei einer kärglichen, wahrhaft knauserigen Staatsbesoldung, die ihn nöthigte, sich mit seiner Familie auf ein Wohn- und Schlafzimmer einzuschränken. O! es giebt Märtyrer, deren Namen nicht glänzen auf den Tafeln der Weltgeschichte, die ihr Herzblut tropfenweise vergießen im Dienste der Gesellschaft.

Wenn ich mir dieses Heldenthum der Arbeit und Entsagung vergegenwärtige, dann bin ich geneigt, manche Mängel, die freilich schroff genug hervortraten, milde zu beurtheilen. Wie hätte unter dieser einseitigen Schulpedanterie, bei dieser ausschließlichen Einschränkung auf eine enge Sphäre die Ausbildung des Humanen nicht leiden sollen! Zartfühlend gegen die Jugend, rücksichtsvoll gegen die Individualität war unser Lehrer nicht; er betrachtete die Jugend ausschließlich als plebs discens. Eine böse Anspielung auf Familienverhältnisse, ein wehethuender Witz auf die Körperbeschaffenheit und Aehnliches machte ihm nichts aus. Wir fürchteten ihn mehr, als wir ihn liebten. Er konnte gut und vertraulich sein, wenn er bei Laune war, aber wehe uns, wenn er den schlimmen Tag hatte! Wir merkten’s von Weitem, wie es im Capitole aussah. Kam er in Pantoffeln und Schlafrock und mit der Pfeife in die Schule, dann war das Wetter gut, aber hatte er seinen blauen Rock, die gewichsten Stiefeln und die weiße Halsbinde an, dann erbleichten beim Aufgehen der Schulthür alle Gesichter und Jeder fragte im Stillen den Nachbar: „Bin ich’s?“ Einmal, am Tage des Proloco, trat er mit der Erklärung in die Schule, daß heute jeder Fehler eine Tatze koste. Man beruhigte sich wegen der baaren Unmöglichkeit, da immer Solche waren, die ihre zwanzig bis dreißig Schnitzer oder mehr machten. Aber richtig! er hielt Wort und zwei Schüler erhielten bis auf dreißig Tatzen, und zwar, wie er es gewohnt war, mit aller Kraft des Körpers aufgemessen, so daß Hände und Finger hoch aufschwollen und eine Woche lang zur Arbeit untüchtig waren. Für ein fühlendes Herz war die Luft an jenem Morgen wie am jüngsten Tage. Aber auch in gewöhnlichen Zeiten tanzte der Stock nicht übel, und wenn Etwas die traurigen Scenen erheiterte, so war es die Beobachtung der verschiedenen Geberden, mit welchen das Strafexempel hingenommen wurde, Geberden, in welchen sich die künftigen Charaktere zum Voraus abspiegelten. Der Eine trat demüthig und schmerzvoll hin; der Zweite nahm’s stolz und kalt, ohne eine Miene zu verziehen; der Dritte krümmte bei jedem Schlage den ganzen Körper wie ein Wurm und rieb jedesmal die Hand auf dem Knie, ehe er sie dem neuen Schlage darbot; der Vierte endlich erhob schon beim Ausholen des Armes ein weibisches Geschrei und variirte bei jedem Niederfalle der Ruthe die Töne wieder in anderer Weise. Das war possirlich anzusehen, und Mancher verdiente seine Tracht redlich. Denn da die lateinische Schule noch die einzige war, in welcher man über die Anfangsgründe der Bildung hinaus Etwas lernen konnte, so drängte sich Crethi und Plethi zu derselben, und es war schwer, an Cicero vorbeizukommen, wenn man Stadtrath oder Kaufmann werden wollte.

Das war die Welt, in welche ich jetzt nach den seligen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1875, Seite 284. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_284.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)
  1. Siehe Nr. 6 und 7 dieses Jahrgangs.