Seite:Die Gartenlaube (1875) 232.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875)


Aus den Arbeitssälen des Kunsthandwerks.
1. Stil und Mode.
Von Julius Lessing.[1]


Es hat seit einigen Jahren im Gebiet der Mode und des Geschmacks eine Bewegung begonnen, die etwas entschieden Ungemüthliches hat. Kenner und Nichtkenner, kunstgerecht und kunstlos, das waren Unterschiede, die man sich auf dem Gebiete der reinen Kunst wohl gefallen ließ. Wenn ein Gemälde gekauft werden sollte, von wohlthätigen Vereinen Denkmäler bestellt wurden, da mußte der „Kenner“ zugezogen werden und es gereichte weiter nicht zur Schande, sich als Laie zu bekennen, der die Sache nicht hinreichend verstünde; aber auf dem ganzen Gebiete dessen, was den Schmuck des Hauses und des Leibes angeht, da durfte sich doch Jeder nach Herzenslust bewegen; wenn es galt, ein Kleid zu kaufen oder einen Schmuck in's Ohr, eine neue Tapete oder einen neuen Teppich, eine Tischdecke oder einen Kissenüberzug, da hielt man es für vollständig ausreichend zu erklären: Das ist mein Geschmack, und damit war es gut.

Jetzt auf einmal soll Alles anders werden. Die Frauen sollen keine Blumen und keine Portraits auf ihre Kissen sticken; man verweigert es den Männern, Hufeisen als Hemdenknöpfe zu tragen, ja man sträubt sich sogar, auf Landschaften und Thieren als Teppichen herumzutreten; denn es beginnt eine Revolution im Allerheiligsten des Hauses, vor deren vernichtenden Grundsätzen selbst die harmloseste Handarbeit auf dem Weihnachtstische nicht sicher ist. Das beruhigende Wort, daß der Geschmack verschieden sei, soll nicht mehr gelten, Regeln und Gesetze, ästhetische Formen und Begriffe werden aufgestellt, wo sonst die liebe Willkür behaglich umherschwärmte, kurz mit dem bloßen Gefallen kann man es den Kunstkennern nicht mehr recht machen und verpönt wird, was noch bis vor Kurzem als neueste Mode von Paris in unerschütterlicher Hochachtung felsenfest dastand.

Wir sind unzweifelhaft in einer Periode der Umwälzung. Es herrscht eine große Bewegung, welche statt der willkürlich herrschenden Modeformen strenge und wohlbegründete Formen in Kunst und Kunstgewerbe einführen will. Ist dies nun aber am Ende auch nur eine Modelaune? Wir haben Perioden des Reinigungstriebes innerhalb des Kunstgewerbes öfters erlebt. Die französische Revolution warf mit den alten Institutionen der Feudalmonarchie auch deren sämmtliche Erscheinungsformen auf das Schaffot. Die lustig bewegten Schnörkel des Rococo, die gepuderten Grazien und Amoretten wurden als frivoles Beiwerk unberechtigter Genußsucht feierlichst verdammt, und der strenge Formenkanon der antikrömischen Kunst wurde eingeführt; à la grecque war Mode, wie vorher à la Dubarry oder à la Pompadour, und die größten Modethörinnen der Zeit waren die ersten, welche sich in die neu aufgebrachten Kleiderformen stürzten und ihre Zuthaten, noch mehr aber ihre Fortlassungen zu benutzen verstanden.

Diese Modeumwälzung war wesentlich politisch-socialer Natur. Man kleidete sich antik, oder glaubte es wenigstens zu thun, ebenso wie man Senat und Consuln, Tribunen, Legionen etc. einführte. In folgerichtiger Weise hat denn auch die Restaurationsperiode offen mit diesen classischen Formen gebrochen und mit Willen und Bewußtsein wieder an die Rococoform des ancien régime angeknüpft. Auch heute weisen wir wieder auf die Formen der antiken Kunst als die berechtigten hin und bestreben uns, an ihnen unsere Schüler, unsere Kunstgewerbetreibenden heranzubilden.

Ist dieses nun wiederum nichts als eine solche Modeumwälzung, nur eine Laune, welche jene Formen an Stelle anderer setzen will, um gelegentlich wieder vom Schauplatz fortgespült zu werden? – Selbst wenn es nur ein Modeversuch wäre, so hätten doch wohl unsere Männer und vornehmlich unsere Frauen, welchen die Auswahl der kunstgewerblichen Gegenstände zum Schmuck des Körpers, des Hauses vor Allem obliegt, einigermaßen Grund, auf die Stimmen der Männer zu hören, welche sich mit diesen Fragen beschäftigen.

Es ist so wunderlich, auf den Einwand, daß dieses oder jenes Muster nicht schön sei, von einer Dame zu hören. „Es ist aber einmal mein Geschmack, der für mich ebenso berechtigt ist, wie der Ihre für Sie.“ Ihr Geschmack!?

Wenn man nicht besser wüßte, wie es hergeht mit der Auswahl der Muster! Unsere Frauen gehen in ein Modegeschäft; ihnen werden Stoffe vorgelegt, von denen man ihnen ebenso gut einreden könnte, daß sie für eine Hanswurstkomödie bestimmt wären, aber es wird gesagt, es sei „haute nouveauté de Paris“, und der Geschmack fängt bereits an, sich zu regeln. Wenn der Jüngling mit der Elle nun noch gar hinzufügt, daß von demselben Stoff die Frau Commerzienrath oder, höher hinauf, Ihre Excellenz gekauft habe, so ist jedes Bedenken geschwunden. „Unser Geschmack“ ist gebildet und verwahrt sich hochmütigst gegen jede Einsprache. – Ganz harmlos und unbewußt wird das Evangelium, welches soeben der Modejüngling aus Gott weiß welchen Geschäftsrücksichten gepredigt hat, gegen jede noch so begründete Einsprache unweigerlich als richtig und unumstößlich wiederholt.

Dieser Unfug, diese blinde Herrschaft der Mode ist es, gegen welche angekämpft werden muß, wenn unser Geschmack einigermaßen wieder in eine richtige Strömung gerathen soll. Alle Umwälzungen der Mode beseitigen zu wollen, wäre ein thörichtes Unternehmen; die hat es zu allen Zeiten gegeben und wird es geben, so lange Menschen bestehen. Aus diesen kleinen Schwingungen, deren Einzelbewegung sich für spätere Zeiten dem Blicke des Beobachters entzieht, setzt sich die Strömung zusammen, welche wir, wenn sie abgeschlossen vor uns liegt, als eine Stilperiode bezeichnen, aber diese Schwingungen müssen wenigstens nach einer Richtung hin gehen; wenn sie alle durch einander wirbeln, so entsteht eben keine Strömung, sondern ein Strudel, der nichts Lebendiges und Gesundes aufkommen läßt. Wir sind unzweifelhaft schlimmer daran, als je eine Periode vorher gewesen. Bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts hatte man es immer mit einer bestimmten Richtung zu thun. Wenn ein Stuhl, ein Tisch gebaut werden sollte, so konnte man über das Material und über den Reichthum der Ausführung verschiedener Meinung sein, über die Gesammtform aber, die dem Stück gegeben werden sollte, war Niemand im Zweifel. Wenn wir jetzt in ein Möbelmagazin treten, wird uns die Auswahl gestellt, ob wir unsere Stube gothisch, oder im Geschmack Louis XV, oder Louis XVI zu haben wünschen, oder lieber Néo-grec oder auch Renaissance, kurz wir haben alle Stile und keinen.

Zu dieser Unsicherheit über die Grenzen des Gebietes kommt noch die Unsicherheit über die Führerschaft auf dem ganzen Gebiete. Bis gegen das Ende des vorigen Jahrhundert hatte viele Generationen hindurch Frankreich die unbestrittene Herrschaft ausgeübt. Es beruhte dies wesentlich auf seiner politischen Machtstellung; weder die künstlerische Ausbildung noch der Geschmack waren im fünfzehnten und sechszehnten Jahrhundert in Frankreich höher gewesen als in Deutschland, nur Italien durfte als Meisterin voran den anderen Nationen genannt werden; allen übrigen Ländern war Deutschland weit überlegen. Das siebenzehnte Jahrhundert brachte den Deutschen politische Zerrissenheit, Armuth, unsägliches Elend, von dessen Folgen wir uns bis heute noch nicht völlig erholt haben; für Frankreich brachte es Reichthum, äußeren Glanz und die Concentration aller geistigen Kräfte um den glänzenden Mittelpunkt des Hofes. Von dort aus wurden der Welt Gesetze, den Kleidern ihr Schnitt und den Köpfen ihre Haare zudictirt.

Gegen Ende des vorigen Jahrhunderts trat eine leichte Erschütterung ein. Der englische Geschmack eroberte sich eine gewisse Geltung. Zur Zeit der deutschen Erhebung in den Freiheitskriegen wurde eine Befreiung versucht; es wurde eine Art von deutschem Rock für die Männer erfunden, auf dem Wartburgfest die französische Schnürbrust feierlichst verbrannt, aber jene Periode, welche mit Heine für die Erinnerungen des Kaiserreichs zu schwärmen begann, kehrte ohne Widerstand zur

  1. Director des Gewerbemuseums in Berlin.
    D. Red.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1875). Leipzig: Ernst Keil, 1875, Seite 232. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1875)_232.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)