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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874)

und mit voller Hingabe der Natur abgelauscht, ja mit solch einer Strenge und Genauigkeit, daß ich wohl die Behauptung wagen darf, daß so manche Kinderseele ihre Puppe wiedererkennen wird, vorausgesetzt, daß die mit dem Glorienscheine umgebene Weihnachts-Puppen-Auferstehung nicht die Erinnerung an die frühere traurige Hinfälligkeit des Puppenbalges überstrahlt und zu Nichte gemacht hat. Auch muß ich mich im Voraus gegen die etwa aufzustellende Aufsicht verwahren, das Bild habe Uebertreibungen aufzuweisen; dies ist keineswegs der Fall, denn die auf dem Bilde nicht sichtbaren Räume der Stube waren ebenfalls dicht gedrängt von Puppeninsassen besetzt. Ja, es war sogar nebenan noch ein Zimmer und – wohin man schaute, Alles war puppenvoll und puppentoll. Und die kleine freundliche Frau? Das ist sie selbst, die Leipziger Puppendoctorin. Ja, ja, die Puppendoctorin! Und der Titel reicht nicht einmal hin, ihre Thätigkeit erschöpfend zu bezeichnen; denn unser Pudel auf dem Tische, welchem sie wieder auf die vier Beine geholfen, legt ein beredtes Zeugniß dafür ab, daß sie auch dem geliebten Vieh eine treue Helferin ist.

Die Puppendoctorin wohnte, als ich ihr meinen Besuch mit dem Skizzenbuch unter dem Arme machte, in der seitdem vom Erdboden verschwundenen Jahrhunderte alten „Schulgasse“. An einer Thür stand der Name „Schneider“. Auf mehrmaliges Anklopfen ertönte das übliche „Herein!“. Ein Blick in die Stube sagte mir, daß ich hier recht sei. Die Puppendoctorin gewährte, nachdem ich meinem Anliegen Ausdruck gegeben, dasselbe in freundlichster Weise. Ich hatte den glücklichsten Zeitpunkt gewählt: drei bis vier Wochen vor Weihnachten, und zwar im Jahre 1873. Das Geschäft war im vollsten Flor; es waren so viele Patienten da, daß sich mein Auge erst daran gewöhnen mußte, um sich zurecht zu finden.

Tagelang arbeiteten wir nun zusammen – sie auf ihrem Stuhle mit der größten Ruhe und Sicherheit die schwierigsten Operationen und Wundercuren ausführend, ich, auf einem Fußbänkchen hockend, in mein Skizzenbuch Puppe an Puppe reihend.

Mein Gott, was habe ich da Alles gesehen! Wahrlich, die Curen des weltberühmten, aufgeblasenen Prahlhanses Doctor Eisenbart sind nichts dagegen. Mit mindestens gleicher Liebe, gleicher Schonung und rührender Hingebung wurden da die Puppenpatienten, einer nach dem andern, ohne Ansehen der Person und des Herkommens, ohne vorausgegangene Marktschreierei und Reclame curirt. Und die Doctorrechnung? Wahrlich, über die hatte sich Niemand zu beklagen.

Da waren Patienten, die den Kopf verloren. Nun, er wurde ihnen wieder aufgesetzt, oder es wurde der alte Balg gar mit einem neuen modernen Köpfchen geschmückt. Zerschmetterte oder zerbrochene Gliedmaßen wurden wieder geheilt oder gleichfalls durch neue ersetzt. Wer seinen Haarwuchs verloren, wurde zur Friseuse geschickt; denn unsere Wunderdoctorin mußte sich in Betreff des Haarwuchses eine Assistentin, eine Haarkünstlerin, halten. Dort wurde aus dem ruppigen Balge eine Jungfrau, die, wie es ja vorkommt, je nachdem man sie drehte, verschämt die Augen auf- oder niederschlug und „in der holden Locken goldnem Glorienglanze“ dann der Dinge harrte, die da kommen sollten. Wem im Gedränge die rothen Wangen erbleichten, wer im Kampfe des Lebens runzlig geworden, wer sich die Nase abgelaufen oder eingerannt, – der Schmelz eines neuen Teints, der Wangen Milch und Blut, der Lippen Rosengluth, der Nase edle Form, kurzum die ganze Jugendfrische, das Ohrringeleinsetzen nicht zu vergessen, wurde durch die treffliche Behandlung unserer Puppendoctorin wieder zurückgezaubert. Wer die Augen nicht mehr aufschlagen konnte – ach, und deren giebt es viele – oder gar anstatt der Augen ein paar Löcher im Kopfe hatte, dem nahm sie vorsichtig den Hirnschädel auseinander, putzte die Fenster der Seele, richtete sie wieder ein oder ersetzte sie durch neue, und siehe da, der ganze Sehapparat that wieder seine gewohnte lachende Schuldigkeit. Wem der Athem, die Stimme ausgegangen, dem wurde ein neuer Odem eingeblasen, und freudigwimmernd quäkte und quikte die kleine Schreipuppe wieder ihr „Papa“ und „Mama“. Ich will aufhören, all die Wundercuren aufzuzählen. Hier heißt es: Geht hin und überzeugt euch selbst!

Während unsrer Arbeit ging das Erzählen und Unterhalten herüber und hinüber, doch in eigentlichen Fluß konnte es mit dem besten Willen nicht kommen, denn – ich lüge nicht – alle fünf Minuten klopfte es, worauf natürlich ein „Herein!“ und alsdann ein Besuch erfolgte.

Was kamen da alles für Menschen! Groß und Klein, Alt und Jung, Männlein und Weiblein, Arm und Reich, kurzum die ganze menschliche Gesellschaft schickte ihre Vertreter, und nur in den allerseltensten Fällen entließ die gute Frau Doctorin Jemanden ohne Hoffnung. Tag und Nacht hörte das Wundercurenthun nicht auf, denn die gemüthliche Frau repräsentirt eine ganz bedeutende Arbeitskraft; vor zwei bis drei Uhr Morgens macht sie nicht Feierabend, und das geht, mehrere Wochen vor Weihnachten beginnend, Tag für Tag so fort bis zum Feste, wo sie endlich auf den verdienten Lorbeeren ruhen und Feiertag halten kann.

Bewundernswerth ist der Scharf- und Ueberblick, mit welchem sie ihr Puppenlazareth beherrscht. Viele der Puppen waren zwar numerirt, doch die größte Anzahl entbehrte dieses Abzeichens. Dennoch kam kein Irrthum, keine Verwechselung vor. Wie ausgezeichnet und von Erfolg gekrönt ihre Curen waren, lehrt der durchaus nicht vereinzelt dastehende Fall, daß geheilte Puppen von der Empfängerin kaum oder gar nicht wiedererkannt wurden; doch man kann sich getrost auf die Gewissenhaftigkeit und den Kennerblick unsrer Puppendoctorin verlassen; denn wie eine Mutter ihr Kind, so kennt unsre Puppendoctorin genau ihre Pfleglinge. Sie weiß stets, wer sie sind, woher sie stammen und wohin sie gehören.

Auch wenn die Gartenlaube den Raum dazu übrig hätte, wer könnte sie alle darstellen, die bei jedem Besuche sich immer wieder erneuernden, anregenden und erheiternden Scenen im Puppenlazarethe? Und so scheiden wir vom Gegenstande unsrer Abbildung mit dem Wunsche, daß die Frau Puppendoctorin noch recht lange zur Freude unserer Kinderwelt ihre heitere Curanstalt bevölkert sehen möge, und mit dem schönen Gruße an alle unsere Leser: Gesunde Feiertage!

Emil Schmidt.



Der Börsen- und Gründungsschwindel in Berlin.
Von Otto Glagau.
1. Zur Einleitung.

Speculation und Schwindel sind die beiden Mächte, die heute auf dem Throne der Welt sitzen, unter deren Herrschaft die civilisirte Menschheit seufzt und stöhnt, siecht und verkümmert. Wenn Speculation und Schwindel einen außerordentlichen Fang gethan haben, wenn in ihrem Netze Hunderttausende und Millionen zappeln, wenn auf der ausgeplünderten und ausgesogenen Gesellschaft ein allgemeiner Nothstand lastet – dann spricht die moderne Volkswirthschaft von einer Krisis, die sie bald eine Handels-, bald eine Geschäftskrisis nennt. Solche Krisen kehren seit dem letzten Vierteljahrhundert immer häufiger, mit erschreckender Regelmäßigkeit wieder, und die Herren Nationalökonomen scheinen sie schon als ein nothwendiges Uebel zu betrachten, indem sie dieselben als krankhafte Zeitströmungen erklären und nach Art eines medicinischen Lehrbuchs die „Diagnose“ der angeblichen Krankheit stellen und die „therapeutischen Mittel“ zu ihrer Bewältigung abhandeln. Das heißt aber doch, die Begriffe verkehren, die Thatsachen verdrehen; es heißt, die Schuldigen unterschlagen und dafür die armen bethörten Opfer anklagen wollen. Fürwahr, ein Hohn, wie er grausamer nicht zu denken ist!

Der jüngste Schwindel geschah 1871 und 1872; er übertraf seine Vorgänger weitaus an Umfang und an Frechheit, und an den Wunden, die er geschlagen, blutet heute ganz Europa und auch Nordamerika. Die Veranlassung zu ihm gab unter Anderm der glorreiche Krieg gegen Frankreich. Das deutsche Volk, plötzlich geeint und mächtig, mußte sein erwachendes Selbst-

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1874). Leipzig: Ernst Keil, 1874, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1874)_788.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)