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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Kräfte zu lähmen, und jetzt nach überstandener Krankheit schien das einst so sanguinische Temperament ganz in das Gegentheil umgeschlagen. So oft sie mit ihrer Tochter allein war, gab sie den Sorgen und Klagen Ausdruck, welche ihre Gedanken einnahmen.

„Was soll aus den Kleinen werden, wenn ich, wie es eben noch so nahe gedroht, frühzeitig sterben muß?“ – immer und immer wieder drängte sich diese Frage auf ihre Lippen. Seufzend gedachte sie des von Thea geschlossenen Bundes:

„Wenn nun Alles übel endet? Wenn sich der Graf, entrüstet über die Nichtachtung seines Willens, beleidigt von Dir abwendet, sobald Du das Ziel, Wernick Deine Hand zu reichen, erlangt hast? Wer soll dann für die Waisen sorgen? Robert bedarf noch auf Jahre hinaus selbst der Beihülfe; Wernick kann im glücklichsten Falle für den eigenen Hausstand Rath schaffen. Wie anders hätte Alles sich gestalten können, wenn –“ Der nicht ausgesprochene Schlußgedanke dolmetschte sich in einem Blick des Vorwurfs.

Thea widerstand dem Drängen des Grafen, zu ihm zurückzukehren, nicht länger, als ihr die Pflicht gebot. Ihre Mutter war wieder rüstig genug, um keines Beistandes mehr zu bedürfen; es gab für Thea Nichts mehr zu leisten, und sie fühlte sich wie erlöst, als sie Anfang Juli ihr baldiges Eintreffen nach Schloß Mattern melden durfte. Wie bedrückend erschien ihr diesmal die Enge des eigenen Familienlebens! Dahin jeder Reiz der Erinnerung, welche diese kleine Welt einst so reich erscheinen ließ – fremde Umgebungen, niedrige Räume – dahin der warme Blick des Vaterauges, Alles so kleinlich, so kümmerlich um sie her, daß ihr war, als müßte sie vor Mangel an Lebensluft ersticken. Sie ließ als Gabe Alles zurück, was sie irgend besaß. Mehr beschämt als freudig, verschenkte sie alles an die Ihrigen. Der Graf hatte ihr, als die Zeit ihrer Rückkehr fest stand, einen Carton mit hübschen frischen Sommertoiletten zugesandt. Er knüpfte daran die Bitte, nun, nachdem länger als ein Jahr über ihren Verlust hingegangen, auch die Trauer abzulegen, er bat zugleich um das Versprechen, daß sie sich fortan nicht mehr vom geselligen Verkehr abschließen würde.

Thea gestand sich nicht, wie sehr dieser Wunsch ihrem eigenen momentanen Bedürfnisse entgegenkam. Durch neue Eindrücke, durch äußerlich bewegtes Leben und Treiben all den peinlichen Gedanken zu entrinnen, welche sie während der letzten Monate bedrängt hatten, erschien willkommen. Als sie eintraf, fand sie das Schloß mit zahlreichen Gästen besetzt. Besuche aus der Kreishauptstadt, einzelne Passanten, die ein paar Tage blieben, um neuen Erscheinungen Platz zu machen, endlich Verwandte der Gräfin, die zu längerem Verweilen aus Ungarn gekommen, füllten das Haus.

Thea’s Persönlichkeit, Manchen bekannt, Anderen neu, wirkte sofort belebend. Das schöne Mädchen ward unmerklich zum stillschweigend anerkannten Mittelpunkte für den anwesenden Kreis, und das Verlangen, die geheime Mißstimmung zu übertäuben, die in ihr wühlte, ließ sie mit all ihren Gaben und deren Wirkung spielen wie mit Bällen, welche der Jongleur in die Luft wirft, um sie selbst wieder aufzufangen. Nichts von Coquetterie lag in der Weise, womit ihr glänzendes Naturell sich äußerte; aber eine fieberische, ihr sonst nicht eigene Lebendigkeit brach Stunde um Stunde hervor, um raketengleich aufzuflammen und ebenso plötzlich wieder zu verlöschen. Sie nahm jede Huldigung, die ihr gebracht wurde, in ihrer sorglosen und doch stolzen Weise hin, ebenso unbekümmert um der Gräfin Stichelreden wie um die prahlerische Eitelkeit, mit der Graf Hugo seine Pflegetochter zur Schau zu stellen stets bedacht blieb. Die Freiheit, mit der ein so junges Mädchen sich zwischen Allem bewegte, erregte indeß bald das Staunen oder den stillen Aerger Derer, welche ihre Stellung zum Hause kannten. Dafür aber, daß über letzteren Punkt Niemand in Zweifel bleiben konnte, sorgte die Gräfin, namentlich ihren Verwandten gegenüber.

Fast schien es, als hätte diese Mittheilung das Interesse, welches sie dämpfen sollte, bei einem derselben noch erhöht. Stephan Sandor, ein Vetter der Hausfrau, hielt sich von der ersten Stunde an, in der ihm Thea begegnete, wie gebannt in ihrer Nähe und warf die ganze Macht seiner Persönlichkeit in jeden Moment, den er mit ihr verlebte. Nicht umsonst. Ohne die gebotenen Lebensformen zu verletzen, löste er allmählich das schöne Mädchen gleichsam los von ihrer Umgebung. Der Platz an ihrer Seite, ein Fluß des Gesprächs, wie er nur Zweien unter Vielen möglich wird, das Recht, ihr jene stillen Aufmerksamkeiten zu erweisen, die namenlos sind und doch Geber und Empfänger so eigenthümlich aneinander fesseln, dies alles war nach kurzer Zeit sein Monopol geworden. Befand er sich nicht neben ihr, so folgte ihr sein Auge wie ihr Schatten; er wußte stets, wo sie war, was sie eben that; mitten im Gespräche mit Anderen wandte er oft plötzlich den Kopf, um mit einem kurzen Worte, das wie ein Vogel zu ihr hinüberflatterte, den Beweis zu geben, daß kein Laut von Dem, was sie zu einem Dritten gesprochen, ihm entging. Bald erblickte man diese Beiden immer zusammen. Die Freiheit des Landlebens unterstützte den geheimen Zug des Suchens und Findens. Es war, als unterliege Thea einer souverainen Macht, der Widerstand entgegenzusetzen nicht möglich sei.

Stephan Sandor gehörte zu jenen Persönlichkeiten, die sich dem Gedächtnisse unverwischbar einprägen, selbst wenn man ihnen nur einmal begegnet und nicht wieder, gleich ungewöhnlich durch die fesselndste äußere Erscheinung wie durch sein geistiges Gepräge. Die kühn geschnittenen lebensvollen Züge interessirten. Ein Blick großer Sanftheit weckte sofort das Vertrauen; bei jeder Regung glühte sein ganzes Wesen auf wie ein Funken eines verborgenen Feuers. Ein wunderbar verwandter Zug blitzte Thea im Verkehre mit dem jungen Ungar entgegen. So oft er sprach, war ihr, als träten ihre eigenen Gedanken wie lebendig gewordene Geister vor sie hin – doch nicht ihre Gedanken allein. Wenn sie seinen Ideen auch zu folgen, seine Phantasien zu überflügeln und seinen überlegenen Geist zu fassen vermochte – Eines war an und in ihm, das sie rührte und fesselte, wie nichts auf Erden je zuvor: eine Kindlichkeit des Gemüthes, die sein ganzes Wesen durchströmte, wie ein frischer Quell. An Das, was er gab, nicht unbedingt zu glauben, war unmöglich, und hier lag der Schlüssel zu der Macht, welche Stephan auf Alle übte, denen er sich je gewidmet, zu derselben Macht, welche auch Thea mehr und mehr umspann. Sie wußte selbst nicht, wie ganz sie in dieser Erscheinung aufging, die gleich einem Meteor in ihr Leben gefallen war; aber sie folgte ihm willenlos in alle Stunden und Tage hinein, wie dem Winke eines Magnetismus, vor dessen leiser Beschwörung jedes Besinnen schwindet und nur der Traum übrig bleibt.

Nach einem jener heißen Augusttage, die sich in so köstlichen Nächten ausleben, begab sich die Tischgesellschaft, als die Abendtafel aufgehoben war, aus dem Gartensalon nach dem tiefer im Park gelegenen Teiche, über welchem um diese Stunde der Mond zu erwarten stand. Bereits zitterte silbernes Licht im weichen Reflex über das Wasser hin, in dessen stiller Ruhe jeder einzelne Stern sich spiegelte. Die Nacht trug ihren Königsmantel; auf dunkelblauem Grunde flimmerte Funke an Funke. Kein Blättchen regte sich; nur der Duft des Jasmins drang mit betäubender Süße aus den Büschen. Ein Lauschen rings, als verhauchte selbst der leise Athem der Natur, harrend und hoffend. Da brach Gesang die Stille. Weiches Tönen melodischer Frauenstimmen, die jenseits des Wassers ein zweistimmiges Lied sangen: „Du bist wie eine stille Sternennacht“.

Stephan trat zu Thea, die im Schatten stand und schweigend in die Höhe blickte. „In meiner Heimath,“ sagte er mit gedämpfter Stimme, „in Winternächten ist es, als zuckte der ganze Himmel. Jeder Stern scheint dann zu beben. Das gleicht Ihnen – auch Sie sind keine stille Sternennacht.“

Sie schüttelte schweigend das schöne Haupt und ließ die Wimpern sinken, ohne damit den Tropfen verbergen zu können, der sich langsam löste und über ihre durchsichtig blasse Wange fiel.

Stephan ergriff ihre Hand. „Thea,“ sagte er mit leidenschaftlicher Innigkeit, „wollen Sie mir folgen in meine schöne Heimath? Thea, können Sie mich lieben?“

„Können Sie mich lieben?“ Dieser Klang, dieses Wort, dereinst von einer anderen Stimme gehört, nicht unter den Sternen, nein, im klaren Lichte des Tages, Antwort heischend, wie heute, und Antwort empfangend als williges Gelöbniß der Treue! Ein Abgrund gähnte plötzlich vor Thea auf. Ihr war, als sei eine Saite gesprungen, deren Riß für ewig alle Harmonie ihres Innern unmöglich gemacht, als sei etwas zerbrochen, das sich nimmer aneinanderfügen ließ. Mit gewaltsamer Hast zog sie ihre Hand zurück, warf einen heftigen Blick zu dem Gesicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 800. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_800.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)