Seite:Die Gartenlaube (1873) 768.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„Roller Brandy“ und „Jersey Lightning“[1] zu versorgen, mit welcher er am Sonntage nach genossener Predigt, meistentheils aber schon vor derselben, den inneren Adam so tüchtig zu erfrischen pflegt, daß ihm das Herz aufgeht und er sich im Kreise gleichgestimmter Seelen oder im trauten Schooße seiner Familie den Nationalbelustigungen von „Old Ireland“, bei welchen bekanntlich das Einschlagen von Hirnschädeln, das Abbeißen von Nasen, Lippen und Ohren und ähnliche harmlose Neckereien eine Hauptrolle spielen, mit anerkennenswerthem Eifer hingiebt.

Dies sind unsere Sonntage. Die andern christlichen Feste werden nur gefeiert, wenn sie auf den Sonntag fallen, und auch dann nur ganz in der Weise des letzteren; damit ist es also ebenfalls nichts. Von den Heiligen will nun der Amerikaner durchaus gar nichts wissen, die „Heiligen der Neuzeit“ am Salzsee („the latter days saints“), die „Schütteler“ oder „Zitterer“ („Shakers“), die heiligen Bekenner der freien Liebe („Free Lovers“), und wie diese modernen Heiligen alle sonst noch heißen mögen, haben dieses Heiligengeschäft bei uns in gar zu übeln Geruch gebracht, und der 22. Februar, der Geburtstag George Washington’s, des einzigen Heiligen, welcher hier jemals anerkannt worden ist, geräth auch schon immer mehr in Vergessenheit, und wenn auch an diesem Tage auf den öffentlichen und auf vielen Privatgebäuden das Nationalbanner weht, die Staats- und Stadtbeamten sich einen Feiertag gönnen, die Milizregimenter und die Veteranen von 1812 wohl auch eine Parade halten, so wird das allgemeine Geschäft, wenigstens hier in New-York, doch nicht dadurch unterbrochen.

Was schließlich den Landesvater betrifft, so erfreuen sich die Amerikaner bekanntlich einer solchen Segnung nicht und verdienen sie auch nicht, feiern sie doch in unbegreiflicher Verblendung gerade den vierten Juli, den Tag, welcher ihnen nun bald vor hundert Jahren in George dem Dritten von England ihren letzten Landesvater raubte, als ihr größtes Nationalfest, neben welchem nur noch ein einziges, nämlich das Neujahrsfest, als voller und alle geschäftliche Thätigkeit ausschließender Feiertag anerkannt wird. Es giebt zwar außerdem noch einige sogenannte Feiertage, wie zum Beispiel der vom Präsidenten der Vereinigten Staaten alljährlich, gewöhnlich auf den vierten Donnerstag im November anberaumte Danksagungstag („Thanksgiving’s-day“) und der „Evacuation-day“, der 12. Oktober, der Tag, an welchem im amerikanischen Revolutionskriege die britischen Truppen 1782 zum letzten Male New-York räumten, und deshalb ein specifisch New-Yorker Feiertag; der erstere wird jedoch nur durch allgemeines Essen von Truthahnbraten und Trinken von Punsch, und der letztere durch eine Parade der Milizregimenter gefeiert; außerdem gehen beide spurlos vorüber, sie unterbrechen das Geschäft, das „business“, nicht. An wirklichen Feiertagen bleiben mithin nur der Neujahrstag und der vierte Juli.

Das Neujahrsfest ist ein Fest für die Erwachsenen. Wie der fromme Israelite am „Séder“, dem Vorabend des Passah- oder Osterfestes, die Schüssel mit dem ungesäuerten Brode, den bitteren Kräutern, dem verbrannten Hammelsknochen, dem in Asche gerösteten Ei und ähnlichen Delikatessen hoch emporhebt und alle Hungrigen zur Theilnahme an diesen Leckerbissen einladet – (allerdings thut er dies, wahrscheinlich aus Furcht vor einer Verbal- oder gar Real-Injurie, in chaldäischer Sprache, welche heutzutage nicht allgemein verstanden werden soll) – so öffnet am Neujahrstage, namentlich in New-York, der sonst ziemlich exclusive Amerikaner nicht nur sein Herz, sondern, was noch unendlich viel mehr sagen will, sein Haus und heißt die ganze Welt zu einem Mahle willkommen, welches nicht nur aus weniger unverdaulichen compacten, sondern auch aus den ausgesuchtesten flüssigen Nahrungsmitteln besteht. Namentlich unter den jungen Damen Amerikas – Mädchen giebt es hier bekanntlich nicht, sondern nur „young ladies“, junge Damen – herrscht schon einige Zeit vor dem Neujahrstage eine nicht geringe Bewegung, denn für jede von ihnen handelt es sich nicht nur um einen einfachen Festtag, sondern um einen Wettkampf mit allen ihren Freundinnen, bei welchem Derjenigen die Siegespalme zuerkannt wird, welche an diesem Tage die meisten „Calls“ (Besuche) empfängt, mithin die größte Anzahl von Verehrern aufzuweisen im Stande ist. Deshalb kündigt die junge Amerikanerin schon einige Zeit vor dem Feste ihren sämmtlichen dem stärkeren Geschlechte angehörigen Bekannten ihre Absicht, am Neujahrstage zu „empfangen“ oder „offenes Haus zu halten“ („to keep open house“), wie man hier zu Lande sagt, an, und sämmtliche Herren verstehen diesen zarten Wink und wissen, daß sie, wenn sie es mit der Dame für immer verderben wollen, am Neujahrstage nur unsichtbar bleiben dürfen, dagegen sich bei ihr – für diesen Tag wenigstens – einen Stein im Brette erwerben können, wenn sie nicht nur in eigener Person ihre Aufwartung machen, sondern auch eine möglichst große Anzahl von Herren, wenn sie auch der Dame, welcher der Besuch gilt, gänzlich unbekannt sind, zu demselben Dienste pressen.

Nun fehlt es der amerikanischen jungen Dame durchaus nicht an Selbstbewußtsein; sie traut sich im Gegentheile die Fähigkeit zu, eine ganze Legion von jungen Männern anzuziehen und vor ihren Siegeswagen zu spannen, – hat sie doch diese Anziehungskraft schon, als sie noch die Schule besuchte, hinlänglich erprobt. Wo es sich aber um so Großes, wie um einen Sieg über ein halbes Dutzend guter Freundinnen handelt, geht sie lieber doppelt sicher und nimmt daher keinen Anstand, ihren eigenen Reizen noch die einer mit den guten Dingen dieser Welt wohlbesetzten Tafel hinzuzufügen; ja, wenn ihre eigenen Mittel es ihr nicht gestatten, die mit einem solchen Empfange verbundenen Kosten zu tragen, so zögert sie sogar keinen Augenblick, zum modernen Cooperativsystem ihre Zuflucht zu nehmen und mit einer oder gar mehreren guten Freundinnen das Neujahrsempfangsgeschäft in Compagnie zu betreiben, so daß jedes Mitglied der Firma einen gleichen Theil der Ausgaben trägt und dafür den dasselbe treffenden Antheil am Gewinne, das heißt an den Besuchen, gutgeschrieben erhält. Der gemeinschaftliche Empfang findet in diesem Falle selbstverständlich bei derjenigen Partnerin statt, welcher der schönste Parlor (Salon) zur Verfügung steht.

Der langersehnte Tag ist endlich da. – Vor wenigen Jahren noch konnte man, wenn man auch noch so fest schlief, den Beginn des neuen Jahres auf die Minute genau erkennen. Jung-Amerika pflegte sich nämlich am Sylvesterabend gestiefelt und gespornt in’s Bette zu legen, um mit dem zwölften Glockenschlage vollständig angekleidet aufspringen und das neue Jahr mit einer herrlichen Serenade aus gewissen Blechtrompeten begrüßen zu können, deren Zaubertöne im Augenblick die ganze Nachbarschaft auf die Beine brachten und sämmtliche Hunde ein Angstgeheul ausstoßen ließen. Doch ach! diese schöne Zeit ist auch schon dahin: die Polizei, eine abgesagte Feindin aller Poesie, hat in unsern jugendlichen Virtuosen die Leidenschaft für die Blechmusik vollständig erstickt und nur das melodische Wunderhorn des Fischhändlers erinnert uns noch an jedem Freitage wehmuthsvoll an die ehemaligen Neujahrsfreuden und an das Dahinschwinden aller Poesie. Unter diesen Umständen ist man heutzutage leider gezwungen, bis Tagesanbruch zu schlafen. Mit anbrechendem Morgen wird aber Alles für den bevorstehenden Tag in Bereitschaft gesetzt. Der Parlor ist auf’s Schönste ausgeschmückt und im Hintergrunde desselben winkt verheißungsvoll ein schön gedeckter Tisch mit appetitlich aussehenden Schüsseln und vielversprechenden weitbauchigen, im Glanze der Morgensonne funkelnden Flaschen.

Wenn die erwachsene Tochter im amerikanischen Hause schon das ganze Jahr hindurch die eigentliche Herrin desselben ist, so ist sie es an diesem Tage noch viel unumschränkter, denn nur ihr gelten die erwarteten Besuche. Der Frau Mama gestattet sie vielleicht das Verweilen im Parlor, daß aber der Herr Papa am Neujahrstage nichts darin zu suchen hat, versteht sich ganz von selbst. Sie selbst hat sich mit ihren schönsten Gewändern und ihrem süßesten Lächeln geschmückt – und es ist bekannt, daß die junge Amerikanerin in Beidem Bedeutendes leistet – und erwartet die Huldigungen ihrer Verehrer. Und sie kommen, sie kommen! Zu zweien, zu Vieren, zu Sechsen kommen sie und legen ihr „a happy new year“ (glückliches Neujahr) der Dame zu Füßen. Die Fremden werden vorgestellt, schütteln ihr nach Landessitte freundschaftlich die Hand, tauschen mit ihr einige meteorologische Beobachtungen und dergleichen aus

  1. „Roller Brandy“, ein aus alten Druckwalzen (rollers) destillirter schlechter Cognac; „Jersey Lightning“, wörtlich übersetzt: Jerseyer Blitz, der ordinärste Whiskey, welcher namentlich in New-Jersey fabricirt wird und der seinen poetischen Namen dem Umstande zu verdanken haben soll, daß er so schnell wie der Blitz tödtet.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 768. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_768.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)