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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Frankreich, welchen beiden Nationen die meisten der Opfer angehörten, wollten Sühne haben. Zuerst kam ein englisches Geschwader nach Dschedda, dessen Befehlshaber vom Pascha die Köpfe der Verfolger verlangte. Dieser gerieth in nicht geringe Verlegenheit. Wen sollte er eigentlich ausliefern? Diejenigen, von denen es bekannt war, daß sie wirklich einen tödtlichen Streich geführt hatten, waren gleich beim Nahen des Geschwaders nach Mekka geflohen, wo die Pforte ohnmächtig ist. Die Zahl derer, welche mehr oder weniger gehetzt und verfolgt hatten, war Legion. Indeß, er mußte Jemand zur Strafe ziehen. Aus dieser Verlegenheit half er sich durch eine grausame List. Er ließ plötzlich ausrufen, die Regierung brauche so und so viel Lastträger, und versprach diesen einen guten Lohn. Wirklich fanden sich einige Dutzend ein. Es war am Abend, denn angeblich sollten die Lastträger des Nachts, von den Engländern ungesehen, Waffen ausschiffen helfen. Kaum waren sie im Fort, wohin man sie bestellt hatte, angekommen, als sie umzingelt und niedergemacht wurden. Die Dscheddaner behaupten, die Engländer selbst hätten letzteres Werk ausgeführt. Vielleicht wäre es dem Pascha lieber gewesen, wenn sie es gethan hätten, aber Dergleichen liegt nicht in ihren Gewohnheiten, wenigstens in der Türkei nicht; in Ostindien ist dies freilich anders. Wahrscheinlich war jedoch ein englischer Commissär gegenwärtig; denn die Sühne mußte ja constatirt werden.

Obgleich die Leute so geheim wie möglich getödtet und sogleich begraben worden waren, so wußte es doch am anderen Morgen die ganze Stadt. Das ärmere Volk zitterte; kein gemeiner Mann glaubte sich mehr seines Lebens sicher. Man zieh den Pascha der schreiendsten Ungerechtigkeit; denn wenn vielleicht auch die hingerichteten Lastträger ebenso schuldig waren, wie alle anderen Dscheddaner, so waren sie doch lediglich deshalb als Opfer gefallen, weil sie eben gemeine Männer waren, für deren Leben kein reicher Verwandter Bestechungssummen bieten konnte. Die Entrüstung gegen den Pascha war in der niederen Volksclasse so groß, daß es gewiß zu einem Aufstand gekommen wäre, hätte nicht die Furcht vor einem Bombardement durch die englische Flotte das Volk im Zaume gehalten. Ganz anders war jedoch die Stimmung in den vornehmeren Kreisen. Diese sind in Dschedda ebenso fanatisch, ja vielleicht fanatischer als das Volk. An der Christenverfolgung hatten sie in jeder Beziehung regen Antheil genommen. Wie schön war es nun nicht vom Pascha, daß er sie ganz geschont und, statt die Opfer aus ihrer Mitte zu wählen, die armen Lastträger, die wahrscheinlich viel weniger schuldig waren als sie, hingerichtet hatte! Das Lob des grimmen Paschas tönte damals aus dem Munde manches reichen Kaufherrn, und an Opfern, welche seiner finsteren Macht gebracht wurden, fehlte es nicht. Doch dieser Jubel sollte bald in wüthende Schmähungen, jenes Lob in scharfen Tadel umschlagen.

Man lächelte in Dschedda verächtlich über die (wie man es nannte) Dummheit der Engländer, die sich durch die Hinrichtung einiger ganz unbedeutender Menschen hatten täuschen lassen. Nun kam aber die französische Flotte an, und deren Führer verlangte gleichfalls blutige Sühne. Der Pascha ließ freilich sagen, man habe bereits die Schuldigen hingerichtet; aber der Franzose war besser unterrichtet. Er verlangte nicht die Köpfe von armen Teufeln, sondern die der angesehensten Leute. Einzelne besonders Gravirte konnte man freilich unter diesen auch nicht bezeichnen. Alle waren mehr oder weniger schuldig. Der Franzose hielt auch vielleicht nicht die Vornehmen für schuldiger, als die geringen Leute, aber er ging von dem Grundsatze aus, daß von zwei sonst gleich großen Verbrechern der gebildetere stets der strafbarere ist, und dann wollte er, daß die Sühne einen weiten Widerhall habe; dies konnte er nur durch die Hinrichtung einer Anzahl der Vornehmen erreichen. Sein Gesuch oder vielmehr sein Befehl war von der Pforte selbst unterstützt, und die Drohung eines Bombardements gab ihm noch mehr Nachdruck. Der Pascha mochte sich drehen und winden, mit seiner Grobheit und seinem Schimpfen kam er diesmal nicht aus – er mußte wiederum eine Anzahl Köpfe ausliefern.

Abermals griff er zu einer grausamen List. Da die Verhandlung zwischen ihm und dem französischen Admiral geheim geblieben war, so schöpften die Vornehmen keinen Verdacht, als eines Tages der Pascha bei ihnen herumschickte und sie zur – Abendmahlzeit einladen ließ. Einige Dreißig der reichsten Grundbesitzer und Kaufleute fanden sich ein. Unter diesen waren mehrere Zechgenossen des Paschas (denn der Alte trank gerne Raki), die dieser vielleicht gern gerettet hätte. Aber er konnte sie nicht warnen, ohne Alarm zu veranlassen. Alle wurden hingerichtet.

Wiederum behaupten die Dscheddaner, die Hinrichtung sei von den Europäern besorgt worden, aber auch die Franzosen spielen nicht ohne Noth die Henker. Jedenfalls hatten sie Gelegenheit, sich zu überzeugen, daß ihnen eine großartige Genugthuung zu Theil geworden war.

Der Einzige, der von dieser Schlächterei Vortheil zog, war Niemand anders als der Pascha. Er ward auf einmal wieder volksthümlich, ja man fing an, ihn für uneigennützig zu halten. Hätten diese Vornehmen ihm nicht ungeheure Summen für ihr Leben bieten können, und hatte nicht sein Pflichtgefühl sie ausgeschlagen? Man vergab ihm die erste ungeschickte Grausamkeit und nannte ihn einen gerechten Mann, der ohne Ansehen der Person richtet. Diese „Gerechtigkeit“ hatte übrigens auch ihren goldenen Boden, denn unter den Hingerichteten waren mehrere, die nur unmündige Kinder hinterließen und deren Vermögen der Pascha „in Verwaltung nahm“. Die Vornehmen tadelten ihn zwar scharf, aber insgeheim; sie zitterten jetzt mehr denn je vor ihm und machten ihm reichere Geschenke als jemals zuvor.

Indeß, nachdem man von einem Menschen so viel Schreckliches berichtet hat, fühlt man, gleichsam um die Ehre der Menschheit zu retten, das Bedürfniß, doch auch einmal, wenn es nur irgend möglich ist, etwas Gutes von ihm zu sagen. Haben doch auch oft die größten Bösewichte ihre rettende Eigenschaft. Eine solche rettende Eigenschaft war beim grimmen Pascha sein Patriotismus. Patriot war er, zwar einseitig und nach der alten Schule, aber glühend. Ich glaube, er wäre im Stande gewesen, für einen patriotischen Zweck all’ sein zusammengeraubtes Geld herzugeben. Dazu hatte er freilich keine Gelegenheit, denn nach seiner Ansicht war die Regierung faul, weil von modernen Ideen angekränkelt, und hätte jede patriotische Spende nur zu Reformen verwandt. Reformen waren aber, nach des Pascha Ansicht, von Uebel. Aus ihnen leitete er den ganzen Verfall des türkischen Reiches ab. Sein Ideal waren die alten Zustände, wie sie zur Janitscharenzeit bestanden. Er war also eigentlich ein Mann der schroffsten Reaction, aber dennoch ein aufrichtiger Patriot, der sich nur in den Mitteln irrte. Die traurige Wahrheit, daß weder Reaction noch Reformen die Türkei retten können, durfte man ihm natürlich nicht sagen. Reformen können einen kranken Staat vielleicht heilen, nicht aber einen todten neubeleben. Indeß er glaubte, daß seinem Vaterlande noch etwas Lebenskraft innewohne. Ein Ausfluß seines Patriotismus war namentlich auch seine Furcht und sein Haß gegen die europäischen Mächte. Wie alle Stocktürken haßte er jedoch am glühendsten Rußland. Der Moskoff (wie man den Russen in der Türkei nennt), das war der Schreckenspopanz, den er, selbst in dem von der russischen Grenze so weit entfernten Dschedda, stets vor Augen hatte. An einen baldigen Krieg mit Rußland glaubte er steif und fest. Das Ergebniß, das er von diesem Kriege erwartete, war, wenn man ihn öffentlich reden hörte, natürlich ein siegreiches für die Türkei, eine Wiederkehr des alten Glanzes und der alten Macht. Aber in intimem Kreise sprach er sich ganz anders aus. Er war viel zu gut von den ungeheuren Mitteln Rußlands unterrichtet und kannte auch viel zu genau die Fäulniß der türkischen Zustände. Dann pflegte er wohl zu sagen:

„Mit uns ist’s vorbei. Die alte türkische Tapferkeit lebt zwar noch, aber was vermag Tapferkeit in einem Zeitalter, wo solche Erfindungen des Teufels, wie die neuen Kanonen, die Hinterlader, die Panzerfregatten etc., Alles entscheiden?“

Dann blickte der grimme Pascha schwermüthig zu Boden, und einmal sah ich sogar bei einer solchen Gelegenheit etwas, das ich nicht für möglich gehalten hätte, wie nämlich bei dem Gedanken an die Auflösung seines Vaterlandes eine einsame Thräne an der grauen Wimper des grimmigen verwitterten Alten erglänzte.



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