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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


Erfahrungen für seinen „Wilhelm Meister“ verwerthete, an welchem er ernstlich zu arbeiten begann.[1] Zur Verschönerung der Residenz an der Ilm trug er ganz wesentlich bei mittels der Parkanlagen, welche nach seinen Eingebungen und unter seiner Leitung ausgeführt wurden. Mit wachsendem Eifer sah er sich in den Naturwissenschaften um; aus dem Getümmel und vor den Sorgen des Lebens, wie vor der Unrast des eigenen Herzens flüchtete er immer wieder in die Philosophie des Spinoza als in eine geweihte Zufluchtstätte, deren erhabene Stille und erfrischende Kühle stets wohlthuend auf ihn wirkten.

So sehen wir also den kraftgenialisch hastenden und tastenden Jüngling zum methodisch strebenden, werkthätig eingreifenden, schaffenden Manne geworden. War er auch ein glücklicher? Kaum. Wußte er doch auch schon von Verarmung zu sprechen. Manches, was ihm früher nahegewesen, hatte er als seinem eigenen Wesen antipathisch von sich gestoßen, anderes hatte der Tod von ihm abgelöst. So seine Schwester, deren Verlust ihm sehr schmerzlich gewesen, so den Vater, dessen Hingang ihn doch wohl mahnen mußte, daß seine Gesinnung und sein Verhalten gegen denselben nicht immer gewesen waren, wie sie billig hätten sein sollen. Seine Stellung im Amt und bei Hofe reizte viel grüngelben Neid gegen ihn auf, denn die Neider wußten ja nicht oder wollten nicht wissen, wie viele Sorgen der Beneidete zu tragen, wie viele Widerwärtigkeiten er durchzukämpfen hatte. Dem dichterischen Schöpfungstrieb mangelte häufig die Muße, so daß kein Ganzes und Großes sich gestalten wollte. „Faust“, „Egmont“, „Tasso“, „Wilhelm Meister“ blieben Stückwerk. Ebenso die im Sommer von 1784 angehobenen „Geheimnisse“, in und mittels welcher Dichtung Goethe mit der Religion und dem Christenthum endgiltig sich auseinandersetzen wollte. Das Unternehmen, welches, wenn fortgeführt und vollendet, ein Faust-Epos, ein Goethe’scher „Parcival“, so zu sagen, hätte werden können, war zunächst für Lotte von Stein bestimmt. An sie richtete sich auch die „Zueignung“, jene herrlichen Stanzen („Der Morgen kam“ u. s. w.), welche jetzt in den Werken des Dichters der Lyrik voranstehen. Es ist in allen seinen Auslassungen gegen die Freundin eine herzbewegende Macht innigsten Zugethanseins. So auch in der Strophe:

„Gewiß, ich wäre schon so ferne, ferne.
Soweit die Welt nur offen liegt, gegangen.
Bezwängen mich nicht übermächt’ge Sterne,
Die mein Geschick an deines angehangen,
Daß ich in dir nun erst mich kennen lerne.
Mein Dichten, Trachten, Hoffen und Verlangen
Allein nach dir und deinem Wesen drängt.
Mein Leben nur an deinem Leben hängt –“

welche er von Braunschweig aus, wohin er mit dem Herzoge gegangen, am 24. August von 1784 an Lotte sandte. Aber es gab doch auch Stunden und Tage, wo diese nur halb erwiderte, naturlose Liebe schwer auf ihm lag, von allen Verbitterungen seines Daseins die bitterste. Solch ein Tag war jener 7. September von 1783 gewesen, an welchem auf dem Gickelhahn bei Ilmenau der Brust des Dichters ein Liedseufzer entquoll („Ueber allen Gipfeln ist Ruh’ –“), welcher zu den süßesten, seelenvollsten Naturlauten der Goethe’schen und überhaupt der Poesie gehört. Kein Wunder, daß, als achtundvierzig Jahre später der lebensmüde Greis noch einmal auf dem Gickelhahn stand und das vor nahezu einem halben Jahrhundert von seiner Hand auf die Wand des dortigen Bretterhäuschens geschriebene „Wanderers Nachtlied“ überlas, ihm die Thränen hervorstürzten und er, von Todessehnsucht angefaßt, wiederholt die Schlußzeile vor sich hinsprach: „Ja, warte nur, balde ruhest du auch!“




Paschawirthschaft in der Türkei.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
Entwerthung des Paschatitels. – Ein Pascha von etwas und ein Pascha von nichts. – Ein alter stocktürkischer Pascha. – Die Grobheit als diplomatisches Hülfsmittel. – Der Schreckensmann im Hausgewand. – Plumpe Schmeichelei. – Wie ein Pascha umsonst lebt. – Der Hungerposten.


Ein Pascha von drei Roßschweifen, das war in der alten Türkei ein Titel, den die allmächtigen, vielgefürchteten allerhöchsten Würdenträger führten und den ein gewisser Zauber umgab. Uns klingt er seltsam, ja er fordert fast den Spott heraus. Noch mehr würde er es thun, wenn statt „Roßschweifen“, das nur ein beschönigender Ausdruck ist, der wahre Gegenstand, nach welchem diese Paschas ihre Würde benannten, stünde. Denn eigentlich waren es die Schweife der Yaks oder Grunzochsen, welche als alttürkische Heerzeichen im Lager eines Feldherrn aufgepflanzt wurden, und zwar je nach der Größe des Heeres, das er befehligte, mehr oder weniger. Der große Heerführer hatte drei, der mittlere zwei, der kleine einen Grunzochsenschweif als Heerzeichen. Später vergaß man den wahren Gegenstand, und der Titel verlor seine ursprüngliche Bedeutung. So lange aber das türkische Reich mächtig war, blieb ein „Pascha von drei Roßschweifen“ ein großer, gewaltiger Herr. Solcher Paschas gab es nicht viele, und selbst manche gewichtige Herren, sogar halbe Landesfürsten, wie der Bey von Tunis, mußten sich mit zwei sogenannten Roßschweifen begnügen. Ja, es gab solche mit einem einzigen, welche gleichfalls oft eine gewichtige Rolle spielten.

Heut zu Tage ist dies anders geworden. Wir leben in einer Zeit, in welcher die Titelsucht in allen Ländern reißende Fortschritte gemacht hat. Jedermann will Titel haben, und die Regierungen finden es sehr bequem, solche statt anderer Belohnungen auszutheilen. Selbst im Orient ist die Titelsucht eingerissen. Man kennt zwar dort nicht solch gänzlich bedeutungslose Titel, wie die unserer vielen Geheimen und anderer Räthe, ohne die eine deutsche Residenzstadt gar nicht gedacht werden kann, dafür sind aber solche Standesbezeichnungen, die ursprünglich nicht leerer Schall waren, wie Effendi, Bey, Agha, dem Loose verfallen, dem alle Titel erliegen, wenn sie zu häufig verliehen werden. Ein heutiger Bey ist ein erbärmliches Ding im Vergleich mit einem Bey vor dreihundert Jahren, der oft ein kleiner Landesherr war, Effendis sind gar so gemein geworden, daß der Volksmund von ihnen „fünf für einen Pfennig“ sagt.

Mit dem Paschatitel ist die Zeit zwar nicht ganz so schlimm gefahren, aber seinen frühern Werth hat er doch nicht mehr. Seit das altehrwürdige Symbol der „Roßschweife“ weggefallen ist, hat man diesen Titel dem europäischen Generalsrang in seinen verschiedenen Abstufungen gleichgestellt, den kleinen Pascha dem Brigade-, den mittleren dem Divisions-General, den großen (den früheren Pascha mit drei Roßschweifen) dem Marschall. Danach wäre freilich dem Paschatitel immer noch eine große Bedeutung geblieben, wenn nur die türkischen Generale in Wirklichkeit dieselbe Bedeutung hätten, wie die unsrigen. Aber mit dem Verfall der Armee ist auch der Generalstitel zu verhältnißmäßiger Unbedeutendheit herabgesunken; selbst die wirklichen Generale bedeuten nicht viel; wie viele giebt es aber nicht, die nur den Titel und gar keine Truppe zu befehligen haben! Pascha ist eben auch ein Titel geworden, der nicht immer ein Amt bedeutet. Dennoch giebt es Paschas, deren Titel nicht leerer Schall ist. Der Volksmund nennt sie „Paschas von etwas“ und die andern „Paschas von nichts“. Fragt man einen Bauer, was er unter diesem „etwas“ und diesem „nichts“ denn eigentlich verstehe, so wird man wahrscheinlich die tröstliche Antwort erhalten, daß das eine „etwas zu stehlen“ und das andere „nichts zu stehlen“ bedeute. Das „nichts“ ist allerdings nicht buchstäblich zu verstehen, denn selbst der erbärmlichste Pascha findet in der Unordnung aller Verwaltungszweige immer noch Gelegenheit, hier und da ein wenig zu stehlen, aber es ist ein „nichts“ im Vergleich mit dem, was die Andern auf die Seite bringen.

Der Statthalter einer Provinz ist gewöhnlich ein solcher „Pascha von etwas“, das heißt, er kann tüchtig stehlen und nebenbei eine fast unumschränkte Macht ausüben. Außerdem ist er meistentheils ein „großer“ Pascha, manchmal ein „mittlerer“. Es kommt indeß auch vor, daß selbst ein „kleiner“ Pascha einer

  1. Die Anfänge des Werkes sind bekanntlich in das Jahr 1777 zu setzen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 746. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_746.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)