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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


fern ab Raum zu geben von ihr. Mögen die Himmlischen ihr, der guten, noch viele der Jahre schenken und Söhne, die uns gleich kommen an Pietät.“

So schrieb Einer hinein, die Anderen stimmten bei, und nachdem der Bläser das Signal des Aufbruches gegeben hatte, wanderten wir, an Fröhlichkeit und Singsang mit den Lerchen wetteifernd, heim. Unbemerkt langten wir an und hörten bald darauf mit Andacht auf des wortreichen Nisus Predigt über den uralten Schulfesttext: „Hier ist nichts Anderes denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.“

Am nächstfolgenden Sonntage waren etliche unserer Lehrer auf der Rudelsburg; sie lasen unsern Uebermuth und – lachten. Wie sehr ein Theil unserer Lehrer, ohne sich etwas zu vergeben, Verständniß hatte für Schülerthorheiten, wenn sie nur nach Witz schmeckten, das zeigte sich auch bei der feierlichen Bestattung des sogenannten Examenmannes. Damit verhielt es sich also:

Nach Schluß jedes halbjährlichen Examens wurde eine Strohpuppe mit ausrangirten Kleidungsstücken ausstaffirt. Diese Puppe hieß Examenmann. Dieselbe wurde, von einem Obersecundaner getragen, durch alle uns zugänglichen Räume der Anstalt geführt. Es folgten alle Schüler mit Ausnahme der Primaner, die in vornehmer Entfernung dem tollen Spiele zuschauten. Toll war das Spiel. Ein zufällig hinzukommender Fremdling hätte ohne Erklärung des Vorganges uns Alle miteinander für Tollhäusler gehalten; denn es wurde dieses Umhertragen des Examenmannes mit einem so wüsten, ohrenfellzerreißenden Lärme und Geschrei begleitet, davon auch, wie Sanct Paulus schreiben würde, die Heiden nicht zu sagen wissen. Die Untertertianer machten die Obersten der Teufel. Weiße Hemden übergezogen, mit allen möglichen, nur erdenkbaren Lärminstrumenten versehen, und sollten es nur große Papiertüten sein, ließen sie ihre Wuth über das Examen – denn das war des kindischen Spieles tiefer Sinn – in so mark- und beinerschütternder Weise aus, daß sie andern Tages mehr oder minder wegen Heiserkeit sprachlos waren.

Eine Pause in dem Lärme bildete die von einem Primaner gehaltene Rede, bei welcher – das wußten wir genau – die Lehrer selbst das gewichtigste Auditorium bildeten. Darin lag die Pointe der Rede; denn in harmloser und in den natürlichen Grenzen sich haltender Situation wurde nun das Verhalten der Lehrer in dieser oder jener famos gewordenen Classenangelegenheit des verflossenen Semesters gegeißelt. Das Ganze war eingerahmt in eine Klage über die Quälereien des Examens, gewöhnlich in Versen. Uebel genommen wurde nichts. Nach Schluß der Rede ging das Brüllen wieder los, und der durch, Gott sei Dank! nicht gefühlte Stockschläge arg mitgenommene Examenmann wurde in die Fluthen des Mühlteiches geschleudert, aus welchem ihn die Müllerknechte um seiner Hosen willen herausfischten. Das war das Ende des Spectakels.

Nicht viel besser erging es den Herren Professoren zu Fastnachten, dessen Feier für uns außer in den köstlichen Pfannkuchen im Theaterspielen gipfelte.

An einem Abende spielten die Obersecundaner irgend ein modernes Lustspiel, am andern die Primaner ein classisches Stück, letztere unter der Aegide des nun heimgegangenen Professors Koberstein, des bekannten Literarhistorikers. Auf jenen weltbedeutenden Brettern im Turnsaale hat auch dessen Sohn, der nun als Schauspieler wie als Schauspieldichter ebenfalls wohlbekannte Karl Koberstein, seine ersten Stipendien im Dienste des Thespis verdient. Ich sehe ihn noch als Antonius im „Cäsar“ uns entzücken.

Was nun das Spiel der Obersecundaner betrifft, so wurde das ähnlich wie beim Examenmann gewürzt durch hineingetragene allgemein verständliche Localwitze, mehr noch dadurch, daß dieser oder jener Schauspieler aus seiner ganzen Rolle die carrikirende Nachahmung eines Lehrers in Haltung, Geberde und Sprache machte. Das war gerade dort nicht allzuschwer, da wir das Glück hatten, uns einiger Lehrer mit ausgeprägten Eigenthümlichkeiten zu erfreuen, welche fast täuschend nachzuahmen den vorhandenen mimischen Talenten zu allgemeiner Lust köstlich gelang. Auch hier war die Regel: „Uebelgenommen wird Nichts“. Indessen keine Regel bekanntlich ohne Ausnahme. So ist auch manchmal einem auf der Bühne bejubelten Schauspieler, wenn er nach abgelegter Maske auf der Schulbank seinem Original gegenüber saß, übel genug zu Muthe gewesen.

Der in Pforte aus natürlichen Gründen mehr als auf anderen Schulen sich bildende Verkehr zwischen Lehrern und Schülern hatte aber außer dem Angenehmen und Fördernden dieses Umganges doch das Unangenehme, daß dadurch Gunst oder Ungunst gegen Einzelne nicht wenig cultivirt wurde; wir nannten das „Fuchs oder Disfuchs haben“. Und gar Mancher hat unter diesem, wenn auch nicht immer ganz unmotivirten „Disfuchs“ nicht wenig geseufzt. Doch das ist überstanden.

Professor K. war Ordinarius von Unterprima; sein Steckenpferd war lateinische Poesie. Jeden Sonnabend gab er das Thema zu einem von uns zu fertigenden Epigramme, das er selten oder vielleicht nie uncorrigirt gelassen hat. Eines Sonnabends legte er die mitgebrachten corrigirten Hefte auf eine Bank in die Nähe meines schon oben erwähnten Freundes G. Dieser, welcher diesmal über die Weisheit des Herrn Professors zu triumphiren hoffte – denn er hatte aus einem alten Schmöker ein classisches Epigramm auf Homer von Heinsius abgeschrieben – suchte etwas neugierig, während K. Anderen ihre Arbeiten mit den nöthigen Bemerkungen zurückgab, in dem neben ihm liegenden Stoß von Heften das seinige. K. bemerke dieses Manöver. „Na, G., was sein Sie vor en neijierijer Pursche“ (er sprach das reinste Weißenfelser Deutsch), „ich wärde Ihnen jleich Ihres vorneweg jeben.“ Er hatte darunter geschrieben:

„Heinsius egregie laudes descripsit Homeri.
     Götzius illius cor sua verba facit!“

was in freier Uebersetzung etwa lauten würde:

Heinsius ehrte vordem den Homer mit gewaltigem Lobe.
Seine Worte, warum eignete Goetz’ sie sich an?

„Ich wärde Ihnen en neies Thema jeben, extra, und das können Sie uf’m Carcer machen.“

Und so geschah’s.

Das war kurz vor den Sommerferien; in den letzten Tagen vor denselben pflegten wir unsere Stubenthüren mit Laub zu bekränzen und mit Plakaten zu behängen, Bogen voll Bilder und Schrift mit Beziehung auf die Geschichte der Bewohner der Stube. K. hatte die Aufsichtswoche und las eifrigst alle ausgehängten guten und schlechten Witze. An irgend einer Thür hing mit einem Male ein Bogen weißes Papier, auf dem nichts geschrieben stand als ganz unten mit keiner Schrift: verte! Pflichtschuldigst drehte der gute Professor um und las: „Neijierijer Pursche“. Er sagte nichts; aber G. mußte von nun an mindestens doppelt so firm sein wie wir.

Daß aber bei alledem unsere gestrengen Herren dafür sorgten, daß die Bäume nicht in den Himmel wuchsen, davon zeugt das schwarze Buch. Als pädagogische Hausmittelchen wurden angewandt: Dispensation, Carene, Carcer. Unter Dispens versteht man sonst gewöhnlich die Entbindung von einer Pflicht; hier war es die von einem Rechte, nämlich des Spazierganges. So kurz auch die Zeit des erlaubten Spazierganges an sich bemessen war, so war ein solcher freiheitsloser Sonntag doch eine herbe Strafe, herber fast als die in den Augen der Lehrer strengere Strafe der Carene. Der Carirende bekam nicht nur kein Mittagsbrod, sondern er mußte, während die Anderen dinirten, an einem in der Mitte des Speisesaales befindlichen Tische stehen. Diese Strafe war für Secundaner schon etwas ehrenrührig; doch kam sie vor, wenn auch selten. Primaner habe ich während meiner Zeit nur einmal cariren sehen; für einen solchen war die Carene ein Unerhörtes. Es herrschte übrigens die rücksichtsvolle Sitte, daß, wenn ein Fremder während des Essens in den Speisesaal kam – was besonders im Sommer häufig der Fall war –, der Carirende ohne zu fragen auf seinen Platz gehen durfte, allerdings ohne zu essen; aber das war auch die Nebensache. Für die Schüler der beiden oberen Classen war die gewöhnliche Strafe Carcer, aber nicht nur für die Dauer von einer oder zwei Stunden, sondern eines ganzen Tages, auch zweier, nur nicht des Nachts.

Auf dem Carcer habe ich vergeblich bei meinem jeweiligen Aufenthalte das famose Klopstock’sche Wort gesucht: „Mich wird die Nachwelt einst in ihre Tafeln graben.“ Dagegen fand ich ein Buch, ein köstliches Carcerbuch, in welches jeder Besucher dieses freundlichen Locales nicht nur seinen Namen eintrug, sondern auch mehr oder weniger ausführlich den Grund

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 648. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_648.JPG&oldid=- (Version vom 7.1.2019)