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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


„und ’s Jungholz is grea (grün),
Aber dürr der alt’ Stamm,
Und so jung als wie heut
Kemma (kommen wir) do’ nimmer z’samm’!“

Wolf hatte keine Lust mehr, an dem wilden Vergnügen Theil zu nehmen – er war noch immer besonnen genug, um durch die Aufregung und das lärmende Treiben hindurch ein Gefühl der Ernüchterung und der Leere zu empfinden, das, wenn es auch in dem steten Jubel nicht die Oberhand erringen konnte, sich dennoch als eine Last spürbar machte, gleich einem in’s Wasser gerollten Felsstück, das unverrückbar auf dem Grunde liegt, wenn es auch in der getrübten Fluth nicht sichtbar ist. Unwillig war er Morgens von Hause fortgestürmt und, ohne weiter des Morgens und seiner Schönheit zu achten, weit im Thale dahin geeilt; die Reden und Vorwürfe seines Vaters hatten ihn so recht in’s Herz getroffen und er empfand es mit heißem Grimme als ein ihm angethanes schweres Unrecht, daß man seine Lebensweise schalt und seine Neigungen verhöhnte. Mochte er sich selbst wie immer befragen, mochte er all’ seine Erinnerungen herbei rufen, er fand nichts darunter, als daß er gern eine Lustbarkeit mitmachte, wie andere Bursche auch, und daß er nicht widerstehen konnte, wo eine Geige lockte oder sonst Musik erklang. Das konnte doch kein so großes Verbrechen sein, daß es die Leute berechtigte, ihn mit einem Spitznamen zu brandmarken, oder seinen Vater, ihn wie einen faulen nichtsnutzigen Knecht zu behandeln. Zehnerlei widersprechende Gedanken und Entwürfe kreuzten sich in seinem Innern, und nur das Eine stand ihm fest: für diesen Schimpf mußte er Vergeltung, für diese Ungerechtigkeit Sühne haben. Welchen Weg sollte er dazu einschlagen? Welche Bahn führte ihn am gewissesten, welcher Pfad am kürzesten zu diesem Ziele? Manchmal war er entschlossen, sobald er wieder nach Hause käme, Schwegelpfeife und Schnitzmesser, Maultrommel und Stemmeisen zu zerbrechen und wegzuwerfen, die Musik wie die Baßlerei ganz aufzugeben und nur der Bauernarbeit zu leben – sein Vater sollte sehen, wozu er im Stande sei, weil er ja doch nichts Anderes aus ihm machen wolle, als einen tüchtigen Bauernknecht – rasch aber schlugen Stimmung und Vorsatz um, und er nahm sich vor, allen seinen Tadlern zum Trotz erst recht nach seinem Sinne zu leben, nur das zu treiben, wozu er Lust und Liebe hatte, und die Arbeit ganz fahren zu lassen, mochte auch daraus werden, was immer möglich war. Dazwischen kamen wohl Augenblicke, wo es ihn wie eine Ahnung beschleichen wollte, daß der Spottname, den man ihm angehängt, ihn vielleicht gerade deshalb so entrüste, weil er sich heimlich doch selbst gestehen müsse, daß er nicht ganz unverdient sei; aber es waren nur Augenblicke, in denen solche Regungen in seinem Gemüthe aufstiegen, wie die Luftblasen aus einer verborgenen Grundquelle – die Wellen des Schmerzes und der Kränkung gingen noch zu hoch und schlugen immer wieder und wieder darüber zusammen.

So war er in die Nähe des Marktfleckens gekommen, heiß von innen und zweifach mehr erhitzt durch die Hast, mit der er in seinen unwilligen Gedanken achtlos dahingewandert war, und durch die Gluth der Mittagssonne. Erfrischend und doch wie betäubend schlug ihm der feuchtkühle Lufthauch aus der Thorhalle des Brauhauses entgegen, als er dasselbe betrat, zugleich damit der Gruß und das Gejohle der lustigen Gesellen, die den Feiertag, den sie sich gemacht, schon seit geraumer Zeit mit Trinken, Singen und Kartenspielen begonnen hatten. Der ehemalige Soldat kannte Wolf, er war mit ihm ungefähr in gleichem Alter und hatte als ein wackerer, anstelliger Knecht auf dem Lindhamerhofe gedient, bis ihn das Loos als Recruten in die Stadt gerufen hatte, während Wolf, der reiche Bauerssohn, sich einen Ersatzmann kaufte und zurückblieb. Das Stadtleben war ihm aber übel bekommen; er hatte viel müßige Zeit gehabt, die ihn in lustige Cameradschaft brachte und ihm, als er vor der Zeit entlassen worden, den Geschmack an regelmäßiger Arbeit verdorben hatte. Der Bahnbau gab ihm Gelegenheit, ein regelloses, lungerndes Wanderleben weiter zu führen, und brachte ihn mit Anderen zusammen, die er von der Stadt her kannte: mit dem verdorbenen Bürgerssöhnchen, dem er früher bei seinen Streichen geholfen, und mit dem vagirenden Schlosser, der einmal ein trefflicher Geselle gewesen war, aber von keinem Menschen mehr in Arbeit genommen wurde, weil es munkelte, er habe seine Geschicklichkeit, mit Schlüsseln und Schlössern umzugehen, in anderm Sinne als in dem seines Handwerks benutzt.

Die Begegnung überraschte Wolf; sie war ihm sogar angenehm, denn es that ihm wohl, sich mit so lauter und offener Herzlichkeit begrüßt zu sehen, so daß er augenblicklich nicht daran dachte, wer die Grüßenden eigentlich waren; er schlug in die dargebotenen Hände freudig ein, that gern aus dem gereichten Kruge Bescheid und saß rasch an dem schnell geräumten obern Platze des Tisches, der unschwer erkennen ließ, daß das Gelage schon einige Zeit gedauert haben mochte. Rasch war die alte Bekanntschaft erneuert und die neue gemacht; Wolf’s gefüllter und leicht zu öffnender Beutel machte den Quell von Speise und Trank, der schon zu versiechen gedroht hatte, in neuer Fülle strömen, und bald saßen die Gesellen in der Zeche beisammen, als wären sie vertraute Freunde oder doch jahrelange Bekannte, und verbrachten die Stunden mit Gesprächen, die, nach dem häufigen und lauten Lachen zu urtheilen, mindestens ihnen selbst höchst unterhaltend vorkamen, mit dem Glück der Spielkarten oder lärmendem Gesang, je nachdem Einem oder dem Andern ein Lied durch den Sinn ging, das ihm aus der Erinnerung früherer Zeiten auftauchte und das sie alle miteinander sangen, auch wenn es ihnen nicht bekannt und meist nur ein unkennbar gewordenes Bruchstück war. So ging der Nachmittag vorüber, und wenn auch Wolf mehrmals des Aufbruchs und der Heimkehr gedachte, nie fehlte es den Andern an einem lustigen Vorwande, dieselben zu verschieben. Als es in der weiten gewölbten Stube zu dunkeln anfing, war er nicht mehr zu halten; eine Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte, eine Nichtbefriedigung überkam ihn, als habe er etwas vergessen, zu dessen Besorgung er eigens gekommen und das er nun doch versäumt habe, und wenn er sich auch gleich besann, daß ihm der Vater das Modell seines künstlich ersonnenen Triebrades zertrümmert und dadurch den Gang zum Blechschmied überflüssig gemacht hatte, blieb doch ein starkes Unbehagen zurück, das ihn weiter trieb. Dazu kam, daß die Kellnerin, welche sie den Tag über bedient hatte, als sie wieder einen vollen Krug auf den Tisch stellte, ziemlich unverblümt zu verstehen gab, daß es nun doch bald an der Zeit wäre, daß sie gingen und ruhigeren Gästen Platz machten. Wolf rissen ihre Worte vom Sitz empor; die Anderen nahmen sie als einen trefflichen Spaß mit lautem Gelächter auf.

„Stell’ Dich an, wie Du willst, Du grandige Dingin,“ rief der Soldat, „solche Gäst’ wie wir sind den Wirthen doch die liebsten, und wenn Du Dir Einen von uns aussuchen müßtest, thät’ Dir doch die Wahl weh.“

„Das glaub’ ich kaum,“ sagte die Kellnerin, indem sie hastig den Tisch abwischte. „Ihr seid Alle von den gut tüchenen; die legt man übereinander und nimmt den obersten her.“

Lachend eilte der Soldat Wolf nach, der schon die Thorhalle erreicht hatte, hing sich ihm in den Arm und trat mit ihm vor das Haus. Wolf versuchte entschieden, sich loszumachen; es war ihm Ernst, sich auf den Heimweg nach Lindham zu machen. „Gute Nacht, Schützenpeter!“ sagte er. „Gute Nacht, Alle miteinander! Ich mag nimmer mitthun; ich hab’ einen weiten Weg vor mir und bin lang’ genug aus – ich bin schon in aller Früh’ fort von daheim.“

„Eben deswegen sollst Du auch nit eher heimgehn als in der Früh’,“ rief der Schlosser. „Eine Ordnung muß in der Sache sein – sonst bringt man nichts vor sich.“

„Freilich, freilich,“ lachte das Stadtkind, „sonst stellt Dir der Wirth ein schlechtes Schulzeugnis aus – in dem meinigen hat’s immer geheißen: Fleiß – unerschöpflich, Fortgang – niemals vor Mitternacht.“

„Nein, nein,“ sagte Wolf, „es langt schon für heut’ – wir kommen schon ein anderes Mal wieder zusamm’ …“

„Ei was, wer weiß, wann uns die Tauben wieder so zusammentragen!“ rief der Schützenpeter. „Komm’ nur noch mit auf ein halbes Stündel! Droben ist Musik; wir haben heut’ noch keine Musik gehabt … Hörst, wie sie blasen? Es ist gerad’, als wenn sie uns rufen thäten.“

In der That klang es durch die Dämmerstille wie ein weicher, langgezogener Hornruf herab. Wolf horchte zögernd auf; wenn irgend etwas seinen Entschluß ändern konnte, waren es solche Töne; sie besaßen eine bannende Macht über ihn; wenn er Musik hörte, bebten und klangen die Fibern seines

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