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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)


als der Mann; denn diese Frage ist für sie die einzige Lebensfrage, der einzige große Wurf, durch dessen Gelingen oder Mißlingen ihr Schicksal entschieden wird und zwar zumeist für immer. Das Schicksal des Mannes dagegen können noch andere Probleme, der Staat, die Kirche, die Wissenschaft, die Berufspflicht, bedingen und bestimmen; denn er ist seinerseits von der Natur nicht darauf angewiesen, in der Familie aufzugehen. Was Lotte betrifft, so war sie keine hochgestimmte Seele, keine ungewöhnlich, sondern nur eine gesund und tüchtig angelegte Mädchennatur. In ihren hellen Augen stand deutlich zu lesen, daß sie recht gut wüßte, ein Spatz in der Hand sei besser als eine Taube auf dem Dache oder gar als ein Paradiesvogel auf einer fernen Palme. Es wäre auch gar nicht unmöglich, daß ein Gerücht von der Flatterhaftigkeit des schönen Sohnes der Frau Aja in die schläfrige Reichskammergerichtsstadt an der Lahn gedrungen und daß dadurch Schön-Lottchen in der Ansicht bestärkt worden, so ein Paradiesvogel sei zwar ein prächtig Ding zum Ansehen, aber beileibe nicht zum Verlieben; zumal nicht für Eine, welcher eine anständige Versorgung an der Seite eines gar nicht unebenen Mannes allbereits gesichert ist. So hatte sie denn Kestner’s „interessanten“ Freund gerne, wie eben lebensfrohe, aber sittsame und kluge Mädchen die Freunde ihrer Hochzeiter gern zu haben pflegen – Punctum. Kestner wußte das und ließ daher die Beiden ruhig und unbefangen gewähren; auch dann, wann, wie doch mitunter geschah, der goethe’sche Sturm und Drang die von allen drei Betheiligten stillschweigend anerkannten Schranken freundschaftlicher Convenienz zu überspringen drohte. Man lebte bis in den Herbst gut und harmonisch mitsammen und trennte sich dann freundlich und friedsam, auf seiten des Dichters wie der beiden Verlobten überzeugt, eine für das Leben aushaltende Freundschaft geschlossen zu haben. Für Goethe scheint es freilich eine Nothwendigkeit geworden zu sein, von dem Umgange mit dem reizenden Mädchen sich loszureißen, um nicht tiefer verstrickt zu werden. Anfänglich hatte er nur eine zeitweilige Entfernung von Wetzlar im Auge, eine mit Merck im August verabredete Rheinfahrt; aber einmal fortgegangen, kehrte er nicht mehr zurück und er that wohl daran. Den Abend des 10. Septembers verbrachte Goethe noch im „Deutschen Hause“. Das Gespräch zwischen ihm, Kestner und Lotte wandte sich auf eines jener Probleme, über welche um so mehr geredet zu werden pflegt, je weniger man davon wissen kann, nämlich auf das „Jenseits“, und die Drei versprachen einander, was befreundete Menschen schon millionenmal einander versprochen haben und was noch nie gehalten worden ist, nämlich daß, wer von ihnen zuerst sterben würde, wiederkommen sollte, um den Ueberlebenden zu berichten, ob denn eigentlich etwas und was an dem Jenseits sei. Am folgenden Morgen verließ der Dichter Wetzlar für immer, ohne ausdrücklichen Abschied von Lotte genommen zu haben. Er mochte seiner Selbstbeherrschung nicht trauen.

Eine mehrtägige Wanderung führte den Flüchtling, wie wir ihn ja wohl nennen dürfen, über Braunfels, Weilburg und Ems nach Ehrenbreitstein, wo er mit Freund Merck zusammentreffen wollte, und im gastlichen Hause der La Roche daselbst konnte ihm einer der vielen bunten und grellen Contraste der Zeit handgreiflich klarwerden. Denn er traf ja da in der Person der Hausfrau die verkörperte Empfindsamkeit, das Sturmlied der Kraftgeniesucht zum Aeolsharfengesäusel gedämpft, und in der Person des Hausherrn die glatte, kalte, sarkastisch-scherzende Weltmännischkeit französischen Salonstils, deren Einwirkungen vordem Wieland in dem Kreise des Grafen Stadion, welchem Herr La Roche ebenfalls angehört, nachhaltig zu verspüren gehabt hatte. Er stieß im Hause auch wieder auf den unvermeidlichen Leuchsenring, den Anschmiegling und Thränendrüsendrücker, und konnte demselben etliche weitere Züge zu seinem Pater Brei abgewinnen. Was jedoch unserem Wanderer zweifelsohne erfreulicher, war die Wiederbegegnung mit der ältesten Tochter des Hauses, der Max, wie sie kurzweg hieß, mit ihren „schwärzesten Augen und einer Gesichtsfarbe, die nicht reiner und blühender gedacht werden konnte“. Diese max’schen Schwarzaugen verfehlten dann auch ihrer Wirkung auf unsern höchst empfänglichen Flatterer nicht. Viele Jahre später hat er die behagliche Erinnerung daran in die Worte gefaßt: „Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der entgegengesetzten Seite den Mond aufgehen und erfreut sich an dem Doppelglanze der beiden Himmelslichter.“ Beizufügen ist aber, daß meines Erachtens die Frauen an solcher Vielseitigkeit eines Mannesherzens, an einer solchen gleichzeitigen Doppelfreude über eine absteigende Sonne und einen aufsteigenden Mond nicht eben sehr sich erbauen werden. Oder doch? Sollte es wahr sein, daß ein nicht gar zu schreiender Ruf der Don-Juanschaft kein Hinderniß, sondern eher ein Förderniß für Männer wäre, Frauengunst zu erlangen? Sollte die Sage, daß die Frauen darauf erpicht seien, Flatterherzen nachzujagen, mehr als Sage sein? Weiberkenner behaupten es. Ich sage aber wohlbedacht „Weiberkenner“, nicht „Frauenkenner“.

Merck, dem der süße Leuchsenring mit seiner ewigen Briefevorleserei höchlich zuwider sein mußte, trieb zum Aufbruch und in seiner und seiner Frau Gesellschaft fuhr der Dichter den Rhein aufwärts, die Schönheit der in vollster Herbstpracht prangenden Ufergelände in die durstige Seele trinkend. Und das war ein mächtiger und langnachwirkender Trunk. Denn ist nicht Rheinisches in Goethe’s Dichtung? Gemahnt sie uns nicht häufig an den Rhein, wie er von Mainz bis Bonn in ruhiger Majestät dahinströmt zwischen seinen schöngehügelten, rebengesegneten Ufern, malerische Felsbildungen, dunkelnde Waldkuppen, „Burgen mit hohen Mauern und Zinnen“, behäbige Dörfer und blühende Städte auf seinen Wassern spiegelnd?

Nach Frankfurt heimgekehrt, wurde unser Wolfgang erst recht gewahr, daß ihm Lotte doch viel gewesen war. Ein Gemüthszustand stellte sich ein, welcher mit dem nach der Rückkehr von Straßburg quälend eingetretenen große Aehnlichkeit hatte. In den Briefen, welche er damals an Kestner und dessen Braut schrieb, wurde der Ton um so leidenschaftlicher, je mehr der Hochzeitstag der Beiden sich näherte. Einmal brach die Leidenschaftlichkeit des Dichters im vollen Bibelstilpathos hervor: – „Ich wandle in der Wüste, da kein Wasser ist; mein Haar ist mein Schatten und mein Blut mein Brunnen“. Eine zu Anfang Novembers aus Wetzlar herübergekommene Botschaft steigerte den Sturm in der Brust des jungen Mannes. Dort hatte sich nämlich am 29. Oktober einer der wetzlarer Genossen Goethe’s, Karl Wilhelm Jerusalem aus Braunschweig, aus Verzweiflung, von der Frau eines Freundes, in die er verliebt war, schroff zurückgewiesen worden zu sein, erschossen, mit einem von dem Gatten seiner Geliebten entlehnten Pistol. „Auf einmal“ – erzählt uns der Dichter in seiner Selbstbiographie – „erfahre ich die Nachricht von Jerusalem’s Tode und in diesem Augenblicke war der Plan zum ‚Werther‘ gefunden. Das Ganze schoß von allen Seiten zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung sogleich in festes Eis verwandelt wird.“ In Wahrheit, der Plan zu dem berühmten Roman mochte so gefunden sein, mit der Ausführung hatte es aber noch Weile. Die Unruhe Wolfgang’s mußte erst noch zunehmen, bis er sich raschweg entschloß, von all der Pein dichtend sich zu befreien. Beim Jahreswechsel von 1773 verheirathete sich die Max La Roche mit dem Handelsherrn Brentano in Frankfurt, und wenn der Dichter dieses Ereigniß zuerst jubelnd begrüßt hatte, wenn er dann sich bemühte, sein Verhältniß zu der schönen jungen Frau als ein geschwisterliches anzusehen, so mußte er doch bald erkennen, daß man sich so etwas zwar leicht einbilden kann, daß es aber schwer, die Einbildung in die Länge festzuhalten und durchzuführen. Ganz eigenthümlich schmerzlich mußte ihm auch der Auftrag, für Kestner’s und Lotte’s Vermählung, welche am 4. April stattfand, in Frankfurt die Trauringe einzukaufen, an das Herz greifen. Persönliche Motive zu der Stimmung, aus welcher heraus der Werther geschaffen wurde, waren demnach hinlänglich viele vorhanden und insofern hatte Goethe ganz recht, am 2. Januar von 1824 zu Eckermann zu sagen: „Ich hätte kaum nöthig gehabt, meinen eigenen jugendlichen Trübsinn aus allgemeinen Einflüssen meiner Zeit herzuleiten. Es waren vielmehr individuelle, naheliegende Verhältnisse, die mir auf die Nägel brannten, mir zu schaffen machten und mich in jenen Gemüthszustand brachten, aus dem der Werther hervorging. Ich hatte gelebt, geliebt und sehr viel gelitten! Das war es.“ Gewiß, und Menschenleben und

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