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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

der soeben den Theetisch in Bereitschaft gesetzt hatte und jetzt im Begriff stand, das Zimmer zu verlassen.

Curt kam der Antwort zuvor. „Eugenie ist nicht zu Hause, Papa,“ sagte er, indem er dem Bedienten winkte, sich zu entfernen.

„Nicht zu Hause?“ wiederholte der Baron erstaunt. „So spät noch ausgefahren und wohin?“

Curt zuckte die Achseln. „Das weiß ich nicht. Ich war unmittelbar, nachdem ich vom Pferde gestiegen, in ihren Zimmern, fand sie aber nicht mehr dort; dagegen fand ich das auf dem Fußboden.“

Er zog ein Blatt hervor, und um die Lippen des jungen Officiers zuckte es ganz eigenthümlich, während er sich anscheinend mit dem größten Ernste bemühte, die beiden Hälften möglichst genau zusammengepaßt vor den Vater hinzulegen, der darauf niedersah, ohne irgend etwas zu begreifen.

„Das ist ja der Entwurf des Scheidungsantrages von der Hand des Justizrathes, das Blatt, das ich Eugenie zur Unterschrift übergab; sie fehlt aber noch immer, wie ich sehe.“

„Nein, unterschrieben ist das Ding nicht,“ meinte Curt mit der unschuldigsten Miene von der Welt, „aber mitten durchgerissen. Merkwürdig! Sieh nur her, Papa!“

„Was soll das heißen?“ fragte Windeg im höchsten Grade befremdet. „Wo kann Eugenie sein? Ich werde die Diener fragen; wenn sie wirklich ausgefahren ist, so müssen sie doch wissen, wohin der Wagen beordert wurde.“

Er wollte die Hand an die Klingel legen, aber schnell ergriff sein Sohn das Wort. „Ich glaube, Papa, sie ist zu ihrem Manne gegangen!“ sagte er sehr ruhig.

„Bist Du von Sinnen, Curt?“ fuhr der Baron auf. „Eugenie zu ihrem Manne?“

„Nun, ich vermuthe das nur so, und wir werden wohl auch bald Gewißheit darüber erhalten, denn auf ihrem Schreibtische lag dieses Billet, an Dich adressirt. Ich habe es mit herübergenommen; es enthält jedenfalls eine Benachrichtigung.“

Windeg riß das Couvert ab und bemerkte in seiner Hast gar nicht, wie Curt die Etiquette so weit verletzte, daß er sich erlaubte, hinter ihn zu treten und über seine Schulter weg mitzulesen. Die Züge des jungen Officiers zeigten dabei aber einen so unverkennbaren Triumph, daß seine beiden jüngeren Brüder, die nichts von der Scene verstanden, erschreckt und fragend bald auf ihn, bald auf den Vater blickten.

Das Billet enthielt nur wenige Zeilen: „Ich gehe zu meinem Manne! Verzeih’, Papa, daß ich so plötzlich, so heimlich abreise, aber ich will keine Stunde verlieren und ich will nicht erst Deinen Widerstand herausfordern, den ich doch brechen müßte; denn mein Entschluß steht fest. Thue keinen Schritt weiter in der Scheidungsangelegenheit, widerrufe die schon geschehenen! Ich versage meine Einwilligung dazu, ich verlasse Arthur nicht! Eugenie.“

„Ist so etwas je erhört worden?“ brach der Baron jetzt aus, indem er den Brief sinken ließ. „Ein Widerruf, eine förmliche Flucht aus meinem Hause, und das wagt meine Tochter mir zu bieten! So entreißt sie sich meinem Schutze, all’ meinen Plänen und Zukunftshoffnungen für sie und kehrt zu diesem Berkow zurück, jetzt, wo er nahe am Ruine steht, geht zu ihm, mitten unter die empörten Arbeiter, unter die Anarchie auf seinen Gütern; das grenzt ja nahezu an Wahnsinn! Was ist da vorgefallen? Ich muß es wissen, aber zuerst muß dieser unsinnige Entschluß vereitelt werden, so lange es noch Zeit ist. Ich werde augenblicklich –“

„Der Courierzug nach M. ist schon seit einer halben Stunde fort, Papa,“ unterbrach ihn Curt lakonisch. „Und eben scheint auch der Wagen vom Bahnhofe zurückzukommen. Es ist jedenfalls zu spät.“

In der That hörte man soeben den Wagen, dessen sich die junge Frau ohne Zweifel bedient hatte, unten in das Portal einfahren. Der Baron sah jetzt auch ein, daß es zu spät war, und nun wendete sich sein ganzer Zorn gegen seinen Sohn. Er warf ihm vor, allein an Allem schuld zu sein; er habe durch seine thörichte Bewunderung für den Schwager, durch seine übertriebenen Berichte von dessen Lage Eugeniens Gewissen aufgestachelt, bis ein falsches Pflichtgefühl sie antrieb, an die Seite ihres Gatten zu eilen, nur weil sie ihn unglücklich glaubte, und war sie erst dort, wer konnte da wissen, ob es nicht am Ende zu einer vollständigen Aussöhnung kam, wenn Berkow egoistisch genug war, das ihm gebotene Opfer anzunehmen. Aber Windeg vermaß sich hoch und theuer, die Scheidung trotz alledem doch durchzusetzen. Die Sache war einmal eingeleitet, der Justizrath hatte sie bereits in Händen, und Eugenie sollte und mußte zur Vernunft zurückkehren. Er, der Baron, wollte doch einmal sehen, ob er seine väterliche Autorität nicht mehr geltend machen könne, wenn auch zwei seiner Kinder – hier traf ein niederschmetternder Blick den armen Curt, der augenblicklich allein zur Stelle war – sie so gänzlich zu mißachten schienen.

Curt ließ den ganzen Sturm über sich ergehen, ohne sich mit einer Silbe zu vertheidigen; er wußte aus Erfahrung, daß dies das beste Mittel sei. Mit tiefgesenktem Kopfe und niedergeschlagenem Blicke schien er in der That außerordentliche Reue zu empfinden über seinen Leichtsinn und über das Unheil, das er damit angerichtet. Als aber der Baron, noch immer ganz außer sich, den Salon verließ, um in seinen eigenen Zimmern über die unerhörte Geschichte weiter zu grollen, schnellte der junge Officier muthig in die Höhe, und der übermüthige Ausdruck seines hübschen Gesichtes, die lachenden Augen gaben leider den Beweis, wie wenig ihm der väterliche Zorn zu Herzen gegangen war.

„Morgen früh ist Eugenie bei ihrem Manne!“ sagte er zu seinen beiden Brüdern, die jetzt mit Fragen und Vorwürfen auf ihn einstürmten. „Und da soll Papa es einmal versuchen, mit seiner väterlichen Autorität und seinem Rechtsanwalt dazwischen zu kommen! Arthur wird sich seine Frau schon sichern, wenn er nur erst weiß, daß sie ihm gehört, bisher wußte er das noch nicht. Wir freilich“ – hier warf Curt einen etwas bedenklichen Blick auf die Thür, hinter der sein Vater verschwunden war –, „wir werden wohl noch acht Tage lang Sturm haben, und der allerärgste kommt noch, wenn Papa erst merkt, wie es eigentlich zwischen den Beiden steht, und daß da von ganz etwas Anderem die Rede ist als blos von Gewissen und Pflichtgefühl; aber dafür bekommt Arthur jetzt vollen Sonnenschein, und damit und mit Eugenie an der Seite wird er sich schon durchschlagen. Den Scheidungsproceß sind wir nun Gott sei Dank los, inclusive Gerichte und Justizräthe – und wer von Euch mir jetzt noch ein einziges Wort gegen meinen Schwager sagt, dem werde ich darauf antworten!“




Es war in den ersten Vormittagsstunden des nächsten Tages, als die Postchaise, die soeben den Weg von M. nach den Berkow’schen Besitzungen zurückgelegt hatte, am Eingange des Thales Halt machte, in dem die Werke lagen, deren erste Häuser man bereits in unmittelbarer Entfernung vor sich sah.

„Thun Sie das nicht, gnädige Frau!“ sagte der Kutscher, in das Innere des Wagens hineinsprechend. „Kehren Sie lieber um mit mir, wie ich Sie schon auf der letzten Station bat. Schon dort habe ich’s gehört, und der Bauer, der uns soeben begegnete, sagt es auch. Es giebt heute Mord und Todtschlag da drüben auf den Werken; von den Arbeiterdörfern sind sie heute schon in aller Frühe hinübergezogen, und nun geht es drunter und drüber. Ich kann Sie beim besten Willen nicht nach Hause fahren; ich riskire Pferde und Wagen dabei. Wenn die drüben einmal im Revoltiren sind, dann schonen sie nicht Freund, nicht Feind. Sie werden doch nicht just heute hinüber müssen; warten Sie doch bis morgen!“

Die junge Dame, welche ganz allein im Wagen saß, öffnete statt aller Antwort den Schlag und stieg aus.

„Ich kann nicht warten,“ sagte sie ernst; „aber ich will Sie und Ihr Fuhrwerk auch nicht in Gefahr bringen. Die Viertelstunde werde ich wohl zu Fuß zurücklegen können. Kehren Sie um!“

Der Kutscher erschöpfte sich noch einmal in Warnungen und Vorstellungen; er fand es gar zu seltsam, daß die fremde, vornehm aussehende Dame, die ihn mit einem überreichlichen Trinkgelde zu möglichst schneller Fahrt bewogen hatte, sich so ganz allein in den Tumult wagen wollte; aber er erreichte nichts damit, als einen etwas ungeduldigen Abschiedswink, und mußte sich endlich achselzuckend zur Umkehr entschließen.

Eugenie hatte einen Fußpfad betreten, der, ohne die Werke selbst zu berühren, über die Wiesen nach dem Ausgange des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 272. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_272.JPG&oldid=- (Version vom 3.6.2018)