Seite:Die Gartenlaube (1873) 259.JPG

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Imperativ giebt auch den Bahnverwaltungen auf, durch ihre technischen und administrativen Einrichtungen dafür zu sorgen, daß der Mechanismus der Disciplin nicht zur Fußangel werde, in der auch der Beste und Treueste sich einmal fangen kann, wahrscheinlich einmal fangen wird. Unzweifelhaft aber ist es, daß die reine Wissenschaft, welche die Thatsachen zu Ideen läutert, die Statistik, unrein beeinflußbare Begriffe, wie den der „Selbstverschuldung der Functionäre“, von ihren Folien fern halten soll.

Für sie giebt es nur Verunglückte, die bei dem Eisenbahnbetriebe oder durch denselben zu Schaden kommen. Von Liebedienerei für, oder Uebelwollen gegen die Verwaltungen, von Wissen und Wollen junger die Untersuchung führender Laien im Eisenbahnwesen kann sie sich dieselben nicht willkürlich rubiciren lassen.

Und sie hat dabei den Trost, daß in der Praxis das zu viel Verzeihen hier gegen das zu viel Beschuldigen dort, die stumpfere Intelligenz in diesem Beamtenkreise gegen die überspitzige in jenem sich heilsam ausgleichen und die nicht kritisirte Zahl zuletzt immer die richtigste und gerechteste ist.

II.

Fünf Elemente sind es, die hauptsächlich auf die Sicherheit des Betriebes der Eisenbahnen Einflüsse üben.

Selbstverständlich zunächst die Zweckmäßigkeit und Tüchtigkeit der Construction und Ausführung, sowie der Erhaltung der Bahn und ihrer Betriebsmittel; sodann die Schnelligkeit der Fahrt; ferner die Dichte des Verkehrs und die technische Form desselben; die Construction der Stationen, und endlich das System der Administration und der Betriebsleitung, die Verständigung durch Telegraphen und Signale eingeschlossen.

Den Ermittelungen über das Maß dieser Einflüsse werden wir die Eisenbahnstationen von England, Preußen und Oesterreich vom Jahre 1869 zum Grunde legen, als eines vom Kriege nicht beeinflußten, in Bezug auf Verkehr und Unfälle ungefähr mittleren Jahres und des letzten, über welches die veröffentlichte österreichische Eisenbahnstatistik Auskunft giebt.

Von diesen drei Elaboraten verdient nur das preußische den Namen einer organisch geordneten, der wissenschaftlichen Praxis des Eisenbahnwesens wirklich förderlichen Statistik.


Ueber die Einflüsse des ersten der oben erwähnten Elemente ist kein Wort zu verlieren; selbstverständlich ist eine gut gebaute und erhaltene Bahn, mit guten Betriebsmitteln befahren, sicherer als eine andere, der diese Eigenschaften mangeln. Hingegen sind die im Publicum überaus verbreiteten irrigen Ansichten über die Gefahren, welche aus vermehrter Fahrgeschwindigkeit erwachsen, zunächst zu berichtigen.

Schnellfahren ist nur da gefährlich, wo es auf nicht dafür construirten Bahnen geschieht.

Ein Blick auf die Statistik der erwähnten Länder wird dies lehren. Es waren im Jahre 1869 im Betrieb:

in England 3331 geographische Meilen Eisenbahnen
in Preußen 1370 " " "
in Oesterreich 1056 " " "

Auf diesen Bahnen fuhren:

in England 312 Millonen Menschen
in Preußen 62 " "
in Oesterreich 18 " "

das heißt: auf derselben Wegstrecke bewegten sich in England 41/2 Mal, in Preußen 23/4 Mal so viel Passagiere als in Oesterreich.

Bei diesen Völkerwanderungen kamen zu Schaden, theils durch Tödtung, theils durch Verwundung:

in England 1525 Menschen
in Preußen 782 "
in Oesterreich 412 "

das heißt: auf jede Million beförderte Passagiere wurden durch den Betrieb beschädigt

in England ca. 5 Menschen
in Preußen ca. 12 "
in Oesterreich ca. 23 "

Zur Beruhigung unserer eisenbahnreisenden deutschen Leser müssen wir hier einschalten, daß sich unter diesen großen Zahlen zu Schaden Gekommener in Deutschland und Oesterreich nur ein sehr keiner Procentsätze von ihresgleichen, das heißt von Passagieren befinden. Es wurden deren

in Preußen 4 getödtet, 17 verletzt;
in Oesterreich 3 " 17 "
in England 39 " 1043 "

das heißt: es kam zu Schaden ein Passagier

in Preußen von 3 Millionen Passagieren,
in Oesterreich " 0,9 " "
in England " 0,3 " "

sodaß die Sicherheit für die Passagiere in Preußen 10 Mal größer als in England, 2,7 Mal größer als in Oesterreich war.[1] Die erstgenannten Zahlen umfassen aber auch Beamte, Arbeiter, solche, die beim Ueberschreiten der Bahn getödtet wurden, Selbstmörder etc.

Wir bemerken indeß ganz ausdrücklich, daß unsere Betrachtungen der Sicherheit des Eisenbahnbetriebes im Allgemeinen nicht der Sicherheit der Passagiere allein gelten, daß wir unter Sicherheit eines Eisenbahnbetriebes die Garantien gegen Unfälle verstehen, die er allen Menschen, die mit ihm in Berührung zu kommen haben, gewährt, und daß uns daher der Betrieb derjenigen Eisenbahn als der bestorganisirte und sicherste erscheint, wo bei gleicher Leistung die wenigsten Menschen überhaupt zu Schaden kommen, gleichviel ob dies Passagiere erster Classe oder Weichensteller sind.

Man hat wohl den Tod des Eisenbahnbeamten im Dienste mit dem des Soldaten auf dem Felde der Ehre vergleichen wollen und behauptet, daß der Functionär für die Sicherheit des Passagiers sich opfern müsse. Der Vergleich ist uncorrect, die Behauptung nur halb richtig.

Wie der Soldat für hohe menschliche Güter, Freiheit und Vaterland, zu sterben, ist im höchsten Grade manneswürdig; durch ein falsches Signal, eine unklare Instruction, eine falsche Weichenstellung zu Grunde gehen, ist ein Elend. Auch liegt es nicht im Amte des Eisenbahnbeamten, zu sterben, und hinter seinen Wunden stehen nicht der Ruhm und das eiserne Kreuz, sondern oft Untersuchung, Entlassung, wenn nicht Schlimmeres.

Wenn es gilt, für die Rettung eines Passagiers einzutreten, hat noch kein wackerer Eisenbahnbeamter gezaudert, sich selbst in die Schanze zu schlagen; aber durch das Opfer derjenigen Leute, die auf übel angelegten Stationen zwischen Puffern erdrückt, in Schlaftrunkenheit äußerster Ermüdung überfahren wurden, die sich in complicirten Signalen irrten, beim Billetcoupiren von den Wagentritten fielen etc., ist noch keinem Passagier das Leben gerettet worden. Für sehr viele dieser Opfer haben Unverstand, Geistesträgheit und Schlendrian in der Administration vor dem Gerichte der Menschlichkeit Rechenschaft abzulegen.

Sehen wir nun, welchen Theil der Schuld an den oben aufgeführten Unfällen die Fahrschnelligkeit in den verschiedenen Ländern trug.

Es wurden 1869 expedirt in runden Zahlen.

in England 3 Millionen Züge, davon 600,000 Schnellzüge
in Preußen 900,000 Züge, davon 64,000 Schnellzüge;
in Oesterreich 200,000 Züge, davon 8058 Schnellzüge.

Die Fahrgeschwindigkeit ist durchschnittlich.

in England für Schnellzüge 6,5 Meilen,
" " " für alle Züge 5,1 "
in Preußen für Schnellzüge 6,0 Meilen,
" " " für alle Züge 4,1 "
in Oesterreich für Schnellzüge 5,2 Meilen,
" " " für alle Züge 5,2 "

Die Gesammtgeschwindigkeit der Bewegung verhält sich daher in Oesterreich, Preußen und England wie 1 : 7,2 und 24,6, während die Zahlen der in diesen Ländern getödteten Passagiere sich wie 1 : 1,3 und 13 und die der Verletzten wie 1 : 1 und 61 verhalten. Die Gesammtzahlen aller Verletzungen und Tödtungen in jenen Ländern, die der Beamten und Arbeiter mit inbegriffen,

  1. Die im Verhältniß zu den anderen Zahlen, besonders auch der Tödtungen, auffallend hohe Ziffer der Passagierverletzungen in England erklärt sich, abgesehen davon, daß deren in der That dort mehr vorkommen als in Deutschland und Oesterreich, zum Theil aus dem Umstande, daß das Publicum in England sein gutes Recht, für unverschuldet erlittene Verletzungen entschädigt zu werden, besser kennt und verfolgt, als in Deutschland und Oesterreich, wo daher eine Menge leichter Verletzungen gar nicht zur Kenntniß der Verwaltungen kommt.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_259.JPG&oldid=- (Version vom 31.7.2018)