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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

Tische, wo sie in oft ganz unbequemer Bauch- oder Seitenlage mit sanfter Gewalt niedergehalten worden waren, einen geraden Kreidestrich in der Verlängerung des Schnabels oder in querer Richtung von jedem Auge aus hingemalt hat. Nun, auch dies ist, so unglaublich es klingt, eine wirkliche Thatsache, und ich will versuchen, Ihnen dieselbe zu demonstriren, doch muß ich von vornherein ausdrücklich hervorheben, daß ich nicht dafür einstehen kann, ob der meist so eclatante Versuch hier, in dieser so zahlreichen Versammlung, bei dieser grellen Beleuchtung, bei dieser, trotz aller Ruhe und Aufmerksamkeit, denn doch von leisen, ungewöhnlichen Geräuschen nicht völlig freien Stille, nach Wunsch gelingen wird, da ich denselben noch niemals unter solchen Umständen angestellt habe und daher nicht wissen kann, ob sich nicht irgend ein störender Einfluß auf meine Hühner geltend machen wird.

Ich muß Sie, zu meiner Sicherstellung als vor- und umsichtiger Experimentator, nothwendig daran erinnern, daß wir da sozusagen einen neuen Versuch machen oder vielmehr einen alten, thatsächlich gelingenden Versuch unter etwas veränderten, neuen Bedingungen. Wir müssen daher auch vorbereitet sein, eine neue Erfahrung zu machen, die uns möglicher Weise eine recht unangenehme Enttäuschung bringen kann, wenn sie uns nämlich des Vergnügens berauben sollte, jetzt und hier den wunderbaren Zustand mit eigenen Augen zu constatiren, in welchen ein scheues Huhn in kürzester Zeit und unter anscheinend so abgeschmackten und sinnlosen Veranstaltungen wirklich und thatsächlich zu versetzen ist.

– (Der Vortragende ließ nun durch seinen Assistenten ein Huhn bringen und auf dem Tisch am Leibe festhalten, was nur unter heftigem Widerstreben und Geschrei des scheuen Thieres gelang; sodann drückte er mit seiner linken Hand Hals und Kopf des niedergehaltenen Huhns auf die Tischplatte und zog mit der rechten Hand einen geraden Kreidestrich von der Schnabelspitze anfangend auf die mit dunkler Farbe lackirte Fläche. Ganz freigelassen, blieb das vorher so widerspenstige Huhn, zwar heftig athmend, sonst aber vollkommen regungslos auf dem Tische liegen und ließ sich widerstandslos und ohne zu erwachen, auf den Rücken wälzen und verblieb dann in dieser unnatürlichen Stellung regungslos bis zum Schlusse des Vortrages. Erst durch das Geräusch des aufbrechenden Publicums wurde es erweckt.) –

Als ich das erste Mal diesen interessanten Versuch und zwar sogleich mit demselben eclatanten Erfolg, den Sie hier vor Augen haben, anstellte, war ich einen Moment, ich gestehe es, starr vor Staunen, denn das Huhn blieb nicht nur viele Minuten lang ganz regungslos in seiner unbequemen und gezwungenen Stellung liegen, sondern machte auch dann nicht den geringsten Versuch, sich zu bewegen oder gar zu entfliehen, als ich es wiederholt aufzuscheuchen suchte. Es war klar, das Huhn hatte unter den anscheinend so sinnlosen und gleichgültigen Veranstaltungen des Versuchs die volle normale Functionsfähigkeit seines Nervensystems eingebüßt und war, wie durch einen Zauber, in einen höchst auffallenden Zustand von Benommenheit versetzt worden, der sich durch eine mehr oder weniger vollständige Suspension seiner Intelligenz oder seines Willens charakterisirte.

Aber „nil admirari!“ (lasse dich nicht verblüffen!) ist die erste Maxime des nüchternen Naturforschers. Es gilt nun, den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen zu ermitteln, um nicht bei einer „ungenau beobachteten Thatsache“ stehen zu bleiben, wie der alte Athanasius Kircher, der berühmte Vielwisser und Jesuit aus Fulda, welcher diese mysteriöse Geschichte in seinem bereits 1646 zu Rom erschienenen Werke „Ars magna lucis et umbrae“ als eine thatsächliche Bestätigung der übergroßen Imagination oder Einbildungskraft der Hühner berichtet. Kircher stellte nämlich den Versuch, welchen er das „experimentum mirabile de imaginatione gallinae“ nennt und sogar durch einen naiv-kräftigen Holzschnitt trefflich illustrirt, folgendermaßen an.

Er schnürte zuerst die Füße des Huhnes vermittelst eines schmalen Bandes zusammen und legte das Thier auf den Boden, wo es sich nach kürzer oder länger andauerndem Geschrei und heftigem Umsichschlagen endlich beruhigte, „wie wenn es,“ sagt er, „bei der Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen, an der Flucht verzweifelnd, sich der Willkür des Siegers preisgäbe.“ Darauf zog Kircher in querer Richtung, von jedem Auge aus, einen geraden Kreidestrich, löste das fesselnde Band und sah nun das Huhn, obschon es nunmehr völlig frei und unbehindert war, regungslos liegen bleiben, selbst wenn er es aufzuscheuchen suchte. Deshalb berichtet Kircher, daß der Kreidestrich von dem Thiere in Folge der überaus lebhaften Imagination, deren sich nach seiner Meinung gerade die Hühner erfreuten, für ein Band gehalten werde, vermittelst dessen es gefesselt sei, wie an seinen Füßen, trotzdem letztere bereits wieder aller Bande los und ledig sind.

Damit hat nun Kircher, so genau sein Bericht auch der Wirklichkeit entspricht, etwas berichtet, was sich gar nicht ereignet hat, und seine wahrheitsgetreuen Angaben in jene verhängnißvolle Kategorie der „ungenau beobachteten Thatsache“ herabgesetzt, welche eine so große Rolle in der Geschichte des menschlichen Irrthums spielt.

Das Erste, was ich that, nachdem die momentane Ueberraschung über den fast zauberhaften Effect, den ich bei dem erwähnten Erstlingsversuch thatsächlich vor Augen hatte, vorüber war, bestand darin, daß ich den Kreidestrich sofort wegwischte. Meine Ueberraschung kehrte für einen Augenblick, vermischt mit einiger Befriedigung, zurück, denn das Huhn blieb regungslos liegen, obschon der Strich verschwunden war. Der Kreidestrich schien also ebenso entbehrlich wie das bei jenem ersten und dem eben angestellten Versuche überhaupt gar nicht in Anwendung gekommene fesselnde Band Kircher’s. Freilich, dies konnte auf einer Nachwirkung des Striches beruhen. Um sofort hierüber in’s Klare zu kommen, stellte ich nun meine Versuche einfach so an, daß ich das Huhn durch einige Zeit mit den Händen festhielt und den Hals sammt dem Kopfe gerade ausgestreckt auf die Unterlage sanft niederdrückte, wie wenn ich den Kreidestrich ziehen wollte, in Wirklichkeit den Strich aber nicht hinmalte. Und siehe da! die Hühner blieben, freigelassen, ebenso regungslos liegen, wie wenn der Kreidestrich gezogen worden wäre!

Daß der Kreidestrich, sowie das fesselnde Band völlig entbehrlich ist, ist somit eine Thatsache. Was dagegen Kircher von der starken Imagination der Hühner berichtet, welche sie verleiten oder zwingen soll, den Kreidestrich für das sie fesselnde Band zu halten, ist nur eine „ungenau beobachtete Thatsache“ – also keine. Bemerken Sie wohl, das allein wirklich Thatsächliche in Kircher’s Bericht ist das regungslose Liegenbleiben des Huhnes vor dem Kreidestriche; indem er aber diese zeitliche Coincidenz ohne weitere Prüfung für einen durch die Einbildungskraft des Huhns vermittelten ursächlichen Zusammenhang nahm, berichtet er ein thatsächliches Ereigniß, welches sich nichtsdestoweniger in Wirklichkeit gar nicht zugetragen hat, wenigstens nicht so, wie er meint.

Durch mein vereinfachtes Verfahren ohne Kreidestrich und ohne fesselndes Band habe ich nun nicht nur Hühner, sondern auch Enten, Gänse, Truthühner und einmal auch einen scheuen und sehr ungeberdigen Schwan in jenen eigenthümlichen Zustand von Stupidität oder Willenlosigkeit versetzt, welche es den Thieren für kürzere oder längere Zeit unmöglich macht zu entfliehen oder überhaupt nur sich zu bewegen, um ihre unbequemen und gezwungenen Stellungen und Lagen zu verändern.

Dieser eigenthümliche Zustand dauert bei Hühnern, an denen ich am häufigsten experimentirte, oft minutenlang, ja manchmal bis zu einer Viertelstunde und mehr, und konnte so intensiv auftreten[WS 1], daß sich die Thiere erst durch wiederholtes Anstoßen und Aufscheuchen erwecken ließen. Ja, es gelang, die Thiere – wie Sie vorhin selbst sahen – aus ihrer Seiten- oder Bauchlage vorsichtig auf den Rücken zu wälzen, ohne daß sie hierbei erwacht wären oder Widerstand geleistet hätten. Bei diesem Umwälzen konnte sehr häufig beobachtet werden – auch dies konnten Sie vorhin bemerken –, daß der Kopf des Huhns, wie von einer unsichtbaren Hand festgehalten, seine Orientirung im Raume (den Scheitel nach oben, den Schnabel nach vorn und etwas nach unten) hartnäckig beibehielt, indem sich der Hals entsprechend verdrehte; zugleich wurde der Fuß jener Seite, welche beim Umwälzen nicht mit der Unterlage in Berührung gekommen war, mit zusammengekrampften Zehen hoch emporgezogen, dagegen der der andern Seite, über welche die Umwälzung stattfand, nach unten ausgestreckt. So blieben dann die Hühner, gerade so wie das unsrige hier auf dem Tische, mit verdrehtem Halse und offenen Augen, noch lange, meist tief und heftig athmend, sonst aber vollkommen regungslos auf dem Rücken liegen, bis sie endlich von selbst oder auf eine nachweisliche Störung hin, namentlich Geräusche, zu sich kamen und entflohen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: aufauftreten
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_127.JPG&oldid=- (Version vom 27.8.2018)