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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873)

„Ganz recht, meinen Ulrich! Ich habe aber noch ein Schwesterkind im Hause, die Martha Ewers.“

„Und die macht Ihnen Sorge?“

„Bewahre!“ rief der Schichtmeister eifrig. „Das Mädchen ist so brav und gut wie nur irgend eine, aber ich hatte mir so gedacht, es könnte aus ihr und dem Ulrich ein Paar werden, und –“

„Und der Ulrich will wohl nicht?“ unterbrach ihn Arthur mit einem eigenthümlich raschen Aufblick der sonst so müden Augen.

Der Alte zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht! Hat er wirklich nicht gewollt oder hat er es nur verkehrt angefangen, genug, es ist aus zwischen ihnen. Und das war noch meine letzte Hoffnung, daß er eine ordentliche Frau bekäme, die ihm den Kopf zurecht setzt.“

Es war seltsam, daß die doch gewiß sehr einfachen und uninteressanten Familiengeschichten des alten Bergmannes den jungen Herrn nicht zu langweilen schienen; er gähnte nicht einmal, was ihm sonst gewöhnlich passirte, wo er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte, und sein Gesicht verrieth sogar ein gewisses Interesse, als er fragte:

„Ist Ihnen denn der Kopf nicht recht, so wie er ihn jetzt trägt?“

Der Schichtmeister sah den Fragenden scheu von der Seite an und dann zu Boden.

„Nun, Herr Arthur, Ihnen brauche ich doch das nicht erst zu sagen. Sie werden wohl schon genug über den Ulrich gehört haben.“

„Ja, ich erinnere mich; mein Vater sprach mir davon. Ihr Sohn ist nicht gut angeschrieben bei den Herren drüben, Hartmann, ganz und gar nicht!“

Der Alte stieß einen Seufzer aus. „Ja, ich kann’s nicht ändern! Er folgt mir nicht mehr, hat mir eigentlich nie gefolgt. Er mußte immer seinen Kopf für sich haben und ihn überall durchsetzen. Ich habe den Jungen ein ganz Theil mehr lernen lassen als die Anderen, vielleicht mehr als ihm gut war; ich dachte, er sollte schneller vorwärts kommen, und er ist ja auch schon Steiger und bringt’s wohl auch noch bis zum Obersteiger, aber von dem Lernen ist doch das ganze Unglück hergekommen! Da kümmert er sich um alle möglichen Geschichten, will alles besser wissen, sitzt die ganze Nacht über den Büchern und ist bei seinen Cameraden alles in allem. Wie er es anfängt, überall der Erste zu sein, das weiß ich nicht, aber er war noch ein kleiner Bube, da hatte er sie schon sämmtlich unter der Fuchtel, und jetzt ist das ärger als je. Was er sagt, das glauben sie blindlings; wo er steht, da stehen sie allesammt, und wenn er sie in die leibhaftige Hölle hineinführte, sie gingen mit, wenn er nur voran wäre. Das ist aber ganz und gar nicht gut, zumal hier auf unseren Werken nicht.“

„Warum grade bei uns nicht?“ fragte Arthur, während er wie in tiefen Gedanken mit dem Schlüssel Figuren auf das Holz des Gitters zeichnete.

„Weil’s die Leute doch hier gar zu schlimm haben!“ platzte der Schichtmeister heraus. „Seien Sie nicht böse, Herr Arthur, daß ich Ihnen das so in’s Gesicht sage, aber es ist einmal so. Ich kann ja nicht klagen; mir ist es von jeher über die Gebühr gut gegangen, weil Ihre verstorbene Mutter meine Frau gern hatte – aber die Anderen! Das arbeitet und plagt sich Tag für Tag und schafft doch kaum das Nothwendigste für Frau und Kind. Es ist, weiß Gott, ein schweres Brod und ein saures Brod, aber arbeiten müssen wir ja Alle, und die Meisten thäten es ja auch herzlich gern, wenn ihnen nur ihr Recht würde, wie aus den anderen Werken. Aber hier drückt und preßt man sie noch um jeden Groschen von ihrem kargen Lohn, und in den Schachten unten sieht es so schlimm aus, daß Jeder beim Einfahren erst sein Vaterunser betet, weil er immer denken muß, die Geschichte stürzt ihm einmal über dem Kopfe zusammen. Aber es ist ja nie Geld zum Ausbessern da, und wenn Einer einmal in Noth und Elend ist, dann ist auch kein Geld da, und dabei müssen sie sehen, wie die Hunderttausende nur immer so nach der Residenz geschickt werden, damit –“

Der Alte hielt plötzlich inne und schlug sich im wahren Todesschrecken auf den vorwitzigen Mund. Er hatte sich so in den Eifer hineingesprochen, daß er ganz und gar vergessen hatte, wer vor ihm stand; erst die tiefe Röthe, die bei den letzten Worten in dem Gesichte des jungen Mannes aufstieg, brachte ihn zur Besinnung.

„Nun?“ fragte Arthur, als er schwieg. „Sprechen Sie doch weiter, Hartmann! Sie sehen ja, daß ich zuhöre.“

„Um Gotteswillen!“ stotterte der alte Mann in tödtlicher Verlegenheit, „ich meinte das nicht so, ich hatte ganz vergessen –“

„Wer die Hunderttausende gebraucht hat! Sie sollen sich jetzt nicht entschuldigen, Hartmann, sondern ungescheut aussprechen, was Sie mir sagen wollten. Oder glauben Sie, daß ich bei meinem Vater den Angeber machen werde?“

„Nein!“ sagte der Schichtmeister ehrlich. „Das thun Sie ganz gewiß nicht. Sie sind nicht wie Ihr Herr Vater, bei dem hätte mich das vorwitzige Wort den Dienst gekostet. Nun, ich meinte nur, das Alles setzt böses Blut bei den Leuten. Herr Arthur“ – er trat ihm mit halb schüchterner, halb zutraulicher Bitte einen Schritt näher –, „wenn Sie sich doch einmal um die Sachen kümmern wollten! Sie sind ja der Sohn des Herrn Berkow und werden später das Alles hier erben; es geht doch Keinen näher an als Sie!“

„Ich?“ sagte Arthur mit einer Bitterkeit, die zum Glück seinem ungeübten Zuhörer völlig entging; „ich verstehe nichts von dem, was hier auf den Werken Brauch und Nothwendigkeit ist; das ist mir von jeher völlig fremd geblieben.“

Der alte Mann schüttelte traurig den Kopf. „Du lieber Gott, was ist da viel zu verstehen! Dazu brauchen Sie nicht erst die Maschinen und die Schachte studirt zu haben. Sie brauchen die Leute nur anzusehen und anzuhören, wie Sie mich jetzt anhören, aber freilich, das thut ja Keiner. Wer klagt, wird fortgeschickt, und dann heißt es gleich ‚wegen Widersetzlichkeit‘, und ein armer Bergmann, der deswegen entlassen ist, findet schwer ein anderes Unterkommen. Herr Arthur, ich sage Ihnen, es ist ein Elend; und das ist’s, was der Ulrich nicht mit ansehen kann, was ihm das Herz abfrißt, und wenn ich zehn Mal gegen seine Ideen rede und predige, im Grunde hat er ja doch Recht; so kann es nicht bleiben. Nur wie er das durchsetzen will, das ist gottlos und sündlich; das wird ihn noch in’s Unglück bringen und die Anderen dazu. Herr Arthur“ – dem Schichtmeister standen die bitteren Thränen in den Augen, als er diesmal ohne alles Zögern die Hand des jungen Mannes ergriff, die noch auf dem Gitter lag –, „ich bitte Sie um Gotteswillen, lassen Sie das nicht so fortgehen! es ist nicht gut, auch für Herrn Berkow nicht. Auf den anderen Werken giebt es ja jetzt auch überall Streit, aber wenn es bei uns einmal losbricht, dann gnade uns Gott, dann wird’s fürchterlich!“

Arthur hatte während der ganzen Rede stumm vor sich hingesehen; jetzt hob er das Auge und richtete einen langen finsteren Blick auf den Sprechenden.

„Ich werde mit meinem Vater sprechen,“ sagte er langsam. „Verlassen Sie sich darauf, Hartmann!“

Der Schichtmeister ließ die ergriffene Hand wieder fallen und trat zurück. Er hatte hier, wo er sein ganzes Herz ausgeschüttet, doch wohl eine andere Wirkung erwartet, als diese karge Verheißung. Arthur richtete sich empor und wandte sich zum Gehen.

„Noch Eines, Hartmann! Ihr Sohn hat mir neulich das Leben gerettet, und es hat ihn wohl gekränkt, daß er kein Wort des Dankes darüber hörte. Ich lege wenig Werth auf das Leben überhaupt, möglich, daß ich deshalb den geleisteten Dienst zu gering anschlug, aber ich hätte das Versäumte nachgeholt, wenn“ – der junge Erbe zog die Augenbrauen zusammen, und seine Stimme gewann einen scharfen Klang – „wenn Ihr Ulrich nicht eben Der wäre, der er ist. Ich habe keine Lust, meine Anerkennung vielleicht in derselben Weise zurückgewiesen zu sehen, wie dies neulich meinem Beauftragten gegenüber geschah. Für undankbar möchte ich trotzdem nicht gehalten werden; sagen Sie ihm, ich lasse ihm danken, und wegen des Uebrigen werde ich mit meinem Vater Rücksprache nehmen. Leben Sie wohl!“

Er schlug den Weg nach dem Parke ein. Der Schichtmeister sah ihm trübe nach, und ein schwerer Seufzer kam über seine Lippen, als er leise vor sich hin sagte: „Gebe Gott, daß es etwas hilft – ich glaube es nicht!“

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1873). Leipzig: Ernst Keil, 1873, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1873)_092.JPG&oldid=- (Version vom 21.5.2018)