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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

dieselbe zuerst aufgehellt zu haben, gebührt dem Professor Kopp in Luzern, welcher 1835 in diesem Sinne auftrat. Mitten auf dem Schauplatze der in den Gemüthern eingewurzelten Begebenheiten lebend, war seine Stellung um so eigenthümlicher, als er ein gläubiger Katholik war, der an keinem Jota der kirchengeschichtlichen Ueberlieferung zweifelte und auch nicht daran dachte, daß man es wagen würde, an diese den gleichen Maßstab anzulegen, wie an die profangeschichtliche Erzählung. Aber welche Ironie des Schicksals! Im nämlichen Jahre erschien Strauß’ Leben Jesu!! –

Bis dahin hatte die Urgeschichte des Schweizerbundes nach den Bearbeitungen von Tschudi und Müller gelautet:

In uralten Zeiten zog aus dem hohen Norden (Schweden), vom Hunger getrieben, ein Volk südwärts, um mildere Regionen aufzusuchen. Am Vierwaldstättersee angekommen, fanden die Auswanderer ähnliche Scenerien, wie in der Heimath Schweden, ließen sich da nieder und gründeten drei kleine Staaten: Uri, Schwyz und Unterwalden. Nur dem Reiche unterthan und von ihm mit Freiheiten ausgestattet, wurden sie, als Rudolf’s von Habsburg Sohn, Albrecht, zum Kaiserthrone gelangte, von diesem als österreichisches Gebiet angesehen, und er sandte ihnen Vögte, welche gegen die Bewohner die empörendsten Gewaltthaten verübten. Dieses Joch wurde unerträglich; die Bedrückten schlossen im Jahre 1307 auf dem Rütli einen geheimen Bund; einer der Vögte, Geßler, fiel durch den Pfeil des Schützen Wilhelm Tell, welchen er gezwungen hatte, einen Apfel von des Sohnes Haupt zu schießen; der Andere, Landenberg, wurde um Neujahr 1308 aus dem Lande vertrieben, und dasselbe war von da an frei.

Ganz anders lautet nun die Erzählung nach Berücksichtigung der Urkunden und der gleichzeitigen Geschichtschreibung:

Die Bewohner der Waldstätten Uri, Schwyz und Unterwalden gehören demselben Stamme an, wie die übrigen deutschen Schweizer, nämlich den Alamannen, welche im fünften Jahrhundert aus Schwaben in Helvetien eingewandert waren; für eine Einwanderung aus Schweden spricht gar nichts. Wahrscheinlich erst seit dem achten oder neunten Jahrhundert waren die Gestade des Vierwaldstättersees bewohnt. Im Jahre 853 schenkte Ludwig der Deutsche das Ländchen Uri dem Frauenkloster zu Zürich, doch nicht den ganzen Canton dieses Namens, in welchem noch mehrere adelige Häuser sowohl, als Klöster Besitzungen hatten. Die hohe Gerichtsbarkeit in Uri übte der Vogt des Züricher Frauenklosters aus. Als diese Stelle durch den Tod des letzten Zähringers, Berthold des Fünften, erledigt wurde (1218), vereinigte sie Kaiser Friedrich der Zweite mit dem Reiche, übertrug aber den Besitz von Uri seinem Anhänger, dem Grafen Rudolf von Habsburg, Großvater des späteren Kaisers dieses Namens. Friedrich’s Sohn aber, Heinrich, welcher sich von seinem Vater unabhängig zu machen suchte, kaufte, um die Gotthardstraße in seine Hand zu bekommen, Uri 1231 von Habsburg los und erklärte das Ländchen als reichsunmittelbar. Dies bestätigte Kaiser Rudolf im Jahre 1274. Schwyz gehörte noch mehreren Herren als Uri; die Gerichtsbarkeit wurde von den Grafen zu Habsburg, als Vorstehern des Zürichgaues, zu welchem Schwyz gehörte, ausgeübt und von ihnen als erblich betrachtet. Die Schwyzer aber benutzten eine zwischen den Habsburgern und Kaiser Friedrich dem Zweiten ausgebrochene Feindschaft, um sich (1240) von Letzterem einen Freiheitsbrief auszuwirken, der demjenigen Heinrich’s für Uri ähnlich war. Durch das Ende des Kaisers kam aber Schwyz von Neuem unter die Herrschaft Habsburgs, daher auch Kaiser Rudolf den dortigen Freiheitsbrief nicht bestätigte. Unterwalden zerfiel von Alters her in die beiden Thäler von Stans und Sarnen, gehörte ebenfalls vielen Herren und Klöstern und stand unter der Gerichtsbarkeit Habsburgs, wie Schwyz, erhielt aber keinen Freiheitsbrief. Als nun Kaiser Rudolf starb (1291), traten sofort die Länder Uri, Schwyz und Unterwalden zu einem Bunde zusammen, dessen Urkunde noch vorhanden ist. Derselbe führte zu einem Kriege mit dem Hause Habsburg, von welchem jedoch keine Einzelheiten bekannt sind, in welchem Schwyz zwar unterlag, aber den Druck der Herrschaft nicht stark spürte, sondern sich ziemlich unabhängig benahm. Es benutzte auch gleich die Verlegenheit, in welcher sich Kaiser Adolf gegenüber seinem Nebenbuhler Albrecht befand, um von diesem eine Bestätigung seines Freiheitsbriefes zu erhalten, und so auch Uri. Als Albrecht über Adolf siegte, bestätigte er zwar natürlich keine Briefe, welche die Rechte seines Hauses aufhoben, aber er bekümmerte sich auch nicht um die Waldstätten, da er sonst genug im Reiche zu thun hatte. Nach seiner Ermordung nun erwirkte Uri, Schwyz und Unterwalden von Kaiser Heinrich dem Siebenten, damals Feind der Habsburger, 1309 einen gemeinsamen Freiheitsbrief. Als sich aber die Habsburger mit dem Kaiser versöhnten, bestellte dieser Schiedsrichter, um ihre und des Reiches Rechte in den Waldstätten zu untersuchen. Er starb jedoch bald, und als sich nun die Waldstätten für Ludwig von Baiern erklärten, fand es des Gegenkaisers Friedrich von Oesterreich Bruder, Herzog Leopold, an der Zeit, die Widerspenstigen zu unterwerfen und zog mit einem Kriegsheer gegen sie, das aber am 15. November 1315 am Morgarten total geschlagen wurde, worauf die drei Länder ihren ewigen Bund zu Brunnen schlossen. Damit war ihre Freiheit auf immer besiegelt, und hier laufen die Erzählungen der Sage und der Geschichte endlich zusammen.

Woher nun diese beiden durchaus verschiedenen Erzählungen? Sehen wir zuerst, wann die sagenhafte Auffassung sich gebildet hat.

Der älteste Chronist, welcher über schweizerische Verhältnisse schrieb, war der Mönch Johannes von Winterthur, welcher von 1340–1347 seine lateinische Chronik verfaßte. Er erzählt sehr ausführlich die Schlacht von Morgarten, aus der er seinen Vater zurückkehren gesehen hatte; auch wußte er, daß der Zweck dieser Schlacht war, die rebellischen Schwyzer zu unterwerfen; von einem Rütlibund aber, von Tell und von Allem, was dazu gehört, weiß er kein Wort. Dasselbe ist auch mit zwei anderen Chronisten des nämlichen Jahrhunderts der Fall: Johannes von Viktring[WS 1] in Kärnten (übrigens ein Gegner Oesterreichs und Freund der Schwyzer) und Mathias von Neuenburg im Breisgau; Beide kennen Morgarten sehr genau, haben aber keine Ahnung von Tell und Rütli. Der Berner Rathsschreiber Justinger, welcher seine deutsche Chronik seit 1420 schrieb, weiß schon mehr, nämlich, daß österreichische Vögte sich in den Waldstätten Gewaltthaten „mit frommer Leute Weibern und Töchtern“ erlaubt hätten; er giebt aber weder eine Zeit an, in welcher dies vorgefallen, noch weiß er irgend etwas von näheren Umständen, die damit verbunden gewesen, noch nennt er Personen, die sich bei diesen Conflicten betheiligt hätten, während er die Schlacht von Morgarten und ihre Nebenumstände sehr gut kennt. Doch das waren keine Waldstätter, sondern „Fremde“. Aber auch ein Urner, Johann Püntiner, und ein Schwyzer, Johann Fründ, welche im Anfange des fünfzehnten Jahrhunderts schrieben, erzählen nichts von dem Aufstande, welcher hundert Jahre vorher stattgefunden haben sollte, sondern begnügen sich, jene Fabel von der Abstammung der Urner von den Gothen und der Schwyzer von den Schweden aufzutischen, welche damit zum ersten Male an das Tageslicht trat.

In der Mitte desselben Jahrhunderts trat dann ein heftiger Gegner der Schwyzer auf, der Chorherr Felix Hemmerlin aus Zürich, welcher damals mit Oesterreich gegen die übrigen Schweizer verbündet war. In einer Streitschrift gegen Schwyz behauptet er, die Bewohner dieses Landes stammten von Sachsen, welche Karl der Große in die Alpen gesandt hätte, um dort die Straße nach Italien zu bewachen. Diese Sachsen hätten sich zu diesem Geschäfte mit dem plattdeutschen Spruche angeschickt: „Wi wellen hie switten“ (Wir wollen hier schwitzen, d. h. uns anstrengen); daher ihr Name. Hemmerlin beschuldigt damit die Schwyzer, sich gegen Oesterreich empört zu haben, indem sie einen Vogt im Schlosse Lowerz tödteten, unter dem Vorwande, daß er ein Mädchen aus ihrem Lande verführt habe, worauf dann auch die Unterwaldner ihren Vogt Landenberg verjagt hätten. Von Uri, Geßler, Tell und Rütli noch keine Idee! Das erste Buch, welches von diesen handelt, ist die um 1470 im „Weißen Buche“, d. h. einer Urkundensammlung von Sarnen in Unterwalden, eingetragene, aber erst in neuester Zeit bekannt gewordene Chronik. Sie erzählt abermals die Herkunft der Schwyzer aus Schweden. Hier erscheint nun die Tell- und Rütlisage ziemlich so, wie sie später allgemein geglaubt wurde. Die Ochsen Melchthal’s, das Haus Staufachers, der Hut auf der Stange, die Zusammenkunft im Rütli, der Apfelschuß, die That in der hohlen Gasse, Alles tritt hier zum ersten Male auf, hundertdreiundsechszig Jahre, nachdem diese Begebenheiten vorgefallen sein sollen. Tell heißt im „Weißen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Johannes von Viltring
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 803. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_803.jpg&oldid=- (Version vom 21.3.2024)