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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Weihnacht im Lazareth.


„Gehen Sie schon?“ fragte Triefels bedauernd, als die Präsidentin sich nach kurzem Morgenbesuch erhob. Das Zimmer, worin der Kranke gebettet, war nicht eben geräumig, aber hoch; es erschien luftig, da ein dreitheiliges Fenster, welches fast die ganze Breite der Front einnahm, ein großes Stück Himmelblau zeigte und den vollen Strahl der heiteren Wintersonne einließ. Ein kleiner, mit Mappen, Büchern und Zeitungen besetzter Tisch war dicht an das Lager gerückt; an der Wand gegenüber stand auf der Commode ein mit silbernen und goldenen Nüssen, blitzenden Glaskugeln und allerlei militärischen Emblemen aus Zuckerwerk reichbehangenes Weihnachtsbäumchen.

„O, die Zeit wird Ihnen nicht lang werden. Sie bekommen sicher viel Feiertagsbesuch,“ tröstete die gute Dame. „Ich muß aber durchaus hinüber; es giebt heute alle Hände voll zu thun für die Weihnachtsbescheerung!“

„Bekommt Jeder ein Bäumchen?“ lächelte Triefels, indem er mit einem Blick auf die kleine Tanne dankbar ihre Hand an die Lippen zog.

„Jeder freilich nicht!“ entgegnete sie geschmeichelt, „aber Alle zusammen bekommen einen Baum, den größten und schönsten, der nur aufzutreiben war. Und ein kleines Geschenk bekommt Jeder, sogar die Franzosen! Es wird wunderschön; ich freue mich wie ein Kind darauf! Die guten Leutchen werden so vergnügt sein!“

Triefels streifte mit dem müden Blicke des Gefangenen die engen Wände seines Zimmers. „Könnte man dabei sein!“ äußerte er mit einem leichten Seufzer.

„Ei, warum denn nicht!“ rief die Präsidentin eifrig. „Nichts leichter, wenn Ihnen das Freude macht! Vier oder fünf der Leute werden mit Erlaubniß des Doctors sammt ihren Betten in den großen Saal getragen, um der Bescheerung beizuwohnen; gewiß hat er nichts dagegen, wenn man auch Ihr Bett sachte hinüberbringt, der Weg führt ja nur die paar Schritte über den Corridor. Ein prächtiger Gedanke! nun freue ich mich noch einmal so sehr!“

Triefels schüttelte den Kopf: „Es war ja nur ein Einfall.“

„Aber ein guter!“ eiferte die lebhafte Frau, „und er muß ausgeführt werden! Nein, Sie dürfen es mir jetzt nicht zu Leide thun, sich anders zu besinnen! Es wird solch hübsche Abwechselung für Sie sein, und Sie werden sehen, wie bequem ich Ihnen Alles einrichte. Sie sollen so leicht und vorsichtig wie möglich hinübergetragen werden. Auf Wiedersehen also, gegen Abend!“ Ehe Triefels nochmals einen kaum ernstlich gemeinten Widerspruch erhoben hatte, war sie verschwunden, überzeugt, ihren Lieblingspatienten heute wie immer erheitert zu haben.

Zwischen Beiden hatte sich in den vier Wochen, welche der Officier im Lazarethe zugebracht, das zutraulichste Verhältniß herausgebildet; was aber dem Tone des Pfleglings eine so besondere Wärme verlieh, ahnte die gute Präsidentin doch nicht. Wie man den Ort der Liebe liebt, so wird auch jede Gestalt, die, wenn auch noch so passiv, mit theuren Erinnerungen verknüpft ist, dem Herzen sympathisch, und hier wurde die harmlose, mittheilungslustige Frau sogar zu einem Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, welches dem stummen, schweigend immer mehr erstarkenden Leben Klang und Ton verlieh. Für Triefels’ Gewandtheit war es eine leichte Aufgabe, die Präsidentin häufig zu einer Aeußerung, einem Bericht über Eugenie hinzuleiten, und dies geschah so unmerklich, war bei der Vorliebe, welche die leichtplaudernde alte Freundin für das liebe Mädchen hegte, so natürlich, daß ihr selbst am wenigsten auffiel, wie oft und mannigfaltig dies Thema verhandelt wurde. Längst hatte Triefels Alles erfahren, was über Eugenie zu berichten war; ihre Liebenswürdigkeit, ihre Hingabe an die neuerdings übernommenen Pflichten, ihr hoher Sinn wurden gebührend gerühmt, aber auch sanfter Tadel blieb nicht aus, denn nach Ansicht der Präsidentin war sie für ihre Jugend doch gar zu ernst, und die Consequenz, mit der sie jede Bewerbung um ihre Hand ablehnte, wurde als Marotte bezeichnet; es klang hierbei sogar ein Ton von Empfindlichkeit durch, und kaum verhüllte Andeutungen ließen errathen, daß die mütterliche Freundin mit der Fürsprache für einen von ihr bevorzugten Freier selbst gescheitert war.

Noch war die Geliebte also frei! aber sie blieb darum nicht minder für ihn verloren! Von Tag zu Tag, von Woche zu Woche hoffte Triefels mit heißem Wunsche auf ein wenn auch noch so leises Zeichen der Theilnahme – es blieb aus. Er wußte, daß die Präsidentin mit Eugenie von ihm gesprochen; es erschien ihm so naheliegend, daß sie wenigstens einmal einen Gruß an ihn sandte, der ihm die Möglichkeit neuer Anknüpfung gegeben hätte, aber er hoffte und harrte vergebens, und Muthlosigkeit zog erst jetzt mit ihrer ganzen Oede in sein Herz ein. Bis dahin hatte er noch immer an eine Zukunft geglaubt, mit jenem Bedürfniß, jenem Rechte echten Gefühls, das sich im Schweigen mehr noch vertieft als im Aussprechen. Es war ein Traum, ein allzu kühner Traum gewesen! Auf die Macht der einst geweckten einst zugestandenen Liebe hatte er gebaut, und nicht einmal Theilnahme war als schwacher Bodensatz zurückgeblieben. Oft verwünschte er jetzt den glühenden Eifer, womit er den Vorschlag des Arztes in Douchery ergriffen, seine Heilung in dem für Schußwunden so günstigen Wiesbaden zu vollenden; er sehnte sich fort, in die ferne nordische Heimath, zur Schwester, die sich nur in Rücksicht auf die Gefahren eines weitern Transports, sowie auf den Nutzen, welchen die Heilquelle gewährte, hatte bewegen lassen, auf seine Pflege in ihrem Hause zu verzichten. Und nie hatte sich diese Reue so lebhaft geregt wie gestern, am Christabende, wo er, an das einsame Lager gefesselt, mit geschlossenen Augen die jubelnden Kinderstimmen der kleinen Nichten zu hören träumte und mit der ganzen Sehnsuchtsschwere eines verletzten Herzens nach der Heimath verlangte. Zugleich mit den Kerzen des Christbäumchens, das ihm die mütterliche Hand der Präsidentin bescheert, war ihm die letzte, kaum sich selbst gestandene Hoffnung erloschen.

Die trüben Gedanken wichen nicht von ihm, auch heute nicht, trotz der fröhlichen Weihnachtsglocken, die den Festmorgen eingeläutet, trotz des lachenden Sonnenscheins, der die von Haus eingetroffenen Liebesgaben beleuchtete, und Arno war der in Aussicht stehenden Zerstreuung wirklich froh, als bald nach Dunkelwerden vier Träger anlangten und ihn unter der Aufsicht einer Pflegerin vorsichtig sammt dem Bette in den großen Saal hinübertrugen. Dort stand die Präsidentin schon zu seinem Empfange an der Schwelle bereit und wies die Leute an, sein Lager an der Mitte der langen Seitenwand niederzustellen, wo sich die beste Uebersicht des Ganzen bot.

Interessirt umfaßte sein Blick das gestaltenreiche Bild, welches sich hier entwickelte. In der Mitte des großen, reich ausgestatteten Saales, welcher zu anderen Zeiten glänzende Gesellschaft zu vereinigen pflegte, stand auf einem Tische der mit Lichterglanz übergossene, über und über geschmückte Weihnachtsbaum. Zur Rechten und Linken desselben senkten sich mächtige Kronleuchter von der Zimmerdecke herab, deren glitzernde Krystallverzierungen im Schimmer der Kerzen farbige Lichter sprühten. Unter jedem derselben stand eine lange weißgedeckte Tafel, mit Zierbäumchen besetzt; auf der einen lagen zahllose Päckchen Tabak und Cigarren; die andere war mit einer Menge farbiger Tücher und Shawls, Notizbücher, Pfeifen und anderer Kleinigkeiten bedeckt, welche eben noch von jugendlichen Frauengestalten beschaut und geordnet wurden.

Rings an den Wänden standen Lagerstätten, theils von ihren darauf gefesselten Inhabern besetzt, theils von Genesenden als Sitzplätze benutzt. Zwischen den Betten und vor denselben drängten sich Soldaten aller Waffengattungen, den Arm, den Kopf noch in der Binde, den Fuß im weiten Filzschuh, von der Krücke gestützt, Mancher das Glied entbehrend, welches die Kugel ihm entrissen, Andere blaß und hager von lange erduldeten inneren Leiden, Dieser gekrümmt von Gicht, Jener mit unförmlich geschwollener Wange – Alle aber in dieser Stunde mit dem gleichen Blicke heiterer Aufmerksamkeit, erwartungsvollen Vergnügens, untereinander Scherzwort und fröhliches Geplauder tauschend.

Eine gewisse Stille, die fast gleichzeitig im ganzen Saal entstand, lenkte Triefels’ Blick dem Eingang zu. Eben war der Geistliche angelangt und schritt freundlich grüßend der Hinterwand entgegen, um von dort aus kurze, schlichte Worte an die lauschenden Krieger zu richten. Es waren nur wenige Sätze und Gedanken und sie fanden den einfachsten Ausdruck – dennoch wurden fast Aller Augen feucht beim Hinweis auf den Gott der Schlachten, der manchen guten Cameraden bereits in sein himmlisches Reich genommen, der Allen, die sich hier zur schönsten heimathlichen Feier vereint, die hohe Gabe des Lichts und des Lebens

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 646. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_646.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)