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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Warum sollte er das nicht? Er bespricht die Sache mit einigen Rittergutsbesitzern der Umgegend, lauter braven Leuten, denen man es nicht verdenken kann, wenn sie zur besseren Verwerthung ihrer landwirthschaftlichen Erzeugnisse sich auch eine Eisenbahn wünschen. Die Herren vereinigen sich zu einem provisorischen Eisenbahncomité zur Erbauung einer directen Eisenbahn von Giebstadt nach Nimmdorf.

„Wie können wir die Geldmittel dazu beschaffen?“ ist die nächste Frage, welche in der ersten Sitzung des provisorischen Eisenbahncomités aufgeworfen wird. Der Herr Bürgermeister erinnert sich in einer Zeitung von der Begründung einer Eisenbahnbaugesellschaft in der Stadt mit einem Capitale von X Millionen Thaler gelesen zu haben; diese Millionen könnten vielleicht die directe Linie Giebstadt–Nimmdorf bauen helfen. Man nimmt eine Landkarte her, bezeichnet auf derselben mit einem Bleistiftstriche die Linie Giebstadt–Nimmdorf und beschließt eine Deputation nach der Stadt zu entsenden, um mit der Eisenbahnbaugesellschaft über die Sache zu verhandeln. Nach diesem entscheidenden Beschlusse wird auch das materielle Wohlsein berücksichtigt, man dinirt und das provisorische Comité trinkt einige Bullen Sect auf den glücklichen Erfolg seiner Bemühungen.

Die Deputation, der Herr Bürgermeister von Giebstadt an ihrer Spitze, geht ab. Der Herr Director der Baugesellschaft empfängt die Herren auf’s Freundlichste, besieht sich den Bleistiftstrich auf der Landkarte und macht den Herren bemerklich, daß es zunächst wohl einer Begehung der Linie und einiger wenigen technischen Vorarbeiten bedürfen würde, um sich über die Trace und das erforderliche Baucapital zu orientiren. Er erklärt sich mit Vergnügen bereit, dieses Geschäft durch die Ingenieure seiner Gesellschaft besorgen zu lassen, die sich hiernach über die Ausführbarkeit der Bahn und das hierzu erforderliche Baucapital aussprechen werde. Der Herr Bürgermeister kehrt nun mit seiner Deputation nach Giebstadt zurück und berichtet dem provisorischen Eisenbahncomité die außerordentlich glücklichen Erfolge ihrer Sendung.

Sehr bald auch erscheinen die Herren Ingenieure, denen Giebstadt und Umgegend den freundlichsten Empfang bereitet. Man steckt ab, nivellirt und projectirt, findet aber natürlich, daß die Linie auf dem wirklichen Terrain nicht so gerade gebaut werden kann, wie der Bleistiftstrich auf der Landkarte sie vorschreibt, und gelangt schließlich zu dem Resultate, daß die Bahn sechs Meilen lang wird und mit 200,000 Thaler pro Meile hergestellt werden kann.

Diese Ziffer wird von den Ingenieuren natürlich nicht dem provisorischen Comité, sondern der Eisenbahnbaugesellschaft in der Stadt mitgetheilt, und die Direction derselben entwirft hiernach für sich folgenden Bauanschlag:

6 Meilen Bahn Unter-, Ober- und Hochbau nebst Ausrüstung
  à 200,000 Thaler 1,200,000 Thaler,
Betriebsmittel 80,000 Thaler pro Meile    0,480,000 Th
also wirklicher Bedarf 1,680,000 Thaler.
Hierzu Gewinn für die Baugesellschaft  
  circa 20 Procent 0,320,000 Th
50 Procent Coursverlust auf die eine  
  Million Stammactien, die man nur  
  zu 50 rechnen kann 0,500,000 Th
25 Procent Coursverlust auf die zwei  
  Millionen Stamm-Prioritäts-Actien,  
  welche mit 75 anzunehmen sind 0,500,000 Th
Es ist daher ein Nominal-Baucapital zu  
  beschaffen von 3,000,000 Thaler.

Hierauf gründet die Baugesellschaft die Berechnung, welche sie dem provisorischen Comité vorlegt. Sie erbietet sich, die directe Linie von Giebstadt nach Nimmdorf, Unterbau, Oberbau, Hochbau und Ausrüstung der

6 Meilen mit 350,000 Thaler pro Meile  
50 zu übernehmen, dies ergiebt 2,100,000 Thaler,
auch die Betriebsmittel der Linie, Personen-  
  und Güterwagen, Lowry und  
  Locomotiven, mit 150,000 Thaler  
  pro Meile, ergiebt 0,900,000 Th
also im Ganzen für 3,000,000 Thaler

die Bahn betriebsfähig herzustellen.

Gleichzeitig erbietet sich die Gesellschaft, die Geldbeschaffung zu besorgen, und zwar:

eine Million Stammactien selbst pari zu zeichnen und die erforderlichen ersten 40 Procent einzuzahlen;
zwei Millionen Stamm-Prioritäts-Actien durch ein Consortium (eine Verbindung von Banken und Geschäftshäusern) zum Course von 75 zu placiren, auch den entstehenden Coursverlust zu tragen.

Das provisorische Eisenbahncomité in Giebstadt ist bei Empfang dieser Mittheilungen ebenso überrascht als erfreut, die Eisenbahn, die Betriebsmittel und das Baucapital fix und fertig vor sich zu sehen, beschließt, diese Offerte anzunehmen und sich wegen der Concessionsertheilung sofort an die hohe Staatsregierung zu wenden.

Der Herr Bürgermeister entwirft eine Eingabe, in der er die industriellen Bestrebungen der Stadt und Umgegend lebhaft schildert, denen nur noch eine Eisenbahnverbindung mit dem großen internationalen Eisenbahnnetze fehlt, um sich zu seltener Blüthe zu entwickeln. Das wichtige Glied in der großen Kette der Eisenbahnen von Giebstadt nach Nimmdorf ist tracirt, veranschlagt und so weit vorbereitet, daß es nur noch hoher Genehmigung bedarf, um ausgeführt zu werden und über die betreffenden Ortschaften das Füllhorn des Kohlen-, Getreide-, Salz- und sonstigen Verkehrs segenbringend zu entleeren.

Die Grundrisse und Höhenprofile liegen der Eingabe bei, die Beschaffung des Baucapitals wird dadurch nachgewiesen, daß die Baugesellschaft die eine Million Stammactien gezeichnet hat und zur Uebernahme der Stammprioritätsactien sich ein Consortium bereit erklärt, die Staatsregierung findet daher keine Veranlassung, der Bahn Concession zu verweigern, und ertheilt sie mit Vorbehalt der üblichen Formalitäten in Bezug auf Caution, Zeit der Ausführung und Uebernahme, indem sie gleichzeitig die Statuten genehmigt. Das vorläufige Eisenbahncomité constituirt sich hiernach zum Verwaltungsrathe und sucht eine Bankverbindung, welche die Güte haben soll, gegen angemessene Provision das viele Geld, welches aus den Einzahlungen demnächst mobil werden wird, in Depôt zu nehmen, denn es giebt ja in Giebstadt nicht hinreichende feuerfeste Schränke, um solche Summen zu verwahren.

Die Baugesellschaft empfiehlt hierzu eine ihr bereits befreundete Bank, der Verwaltungsrath ist damit einverstanden und auch damit, daß die Baugesellschaft die erste Einzahlung von vierzig Procent auf die von ihr gezeichnete Million Stammactien bei dieser Bank leiste. Er erhält sehr bald die Anzeige der Bank, daß diese Einzahlung geleistet sei, und gleichzeitig die Mittheilung, daß dieselbe Bank die Geschäfte des Consortiums besorge, welches die zwei Millionen Prioritätsstammactien der neuen Bahn zum Course von 75 übernehmen werde.

Der Verwaltungsrath genehmigt das Geschäft und constituirt hiernach die Gesellschaft, indem er drei verantwortliche Directoren zur statutenmäßigen Leitung des Unternehmens ernennt.

Das Consortium, an dessen Spitze die Bank steht, will natürlich die übernommenen zwei Millionen Stammprioritätsactien nicht für sich behalten, es entwirft daher ein höchst ansprechendes Programm, in welchem die Rentabilität der Giebstadt–Nimmdorfer Bahn auf das Vortheilhafteste geschildert wird, und legt die mit 75 übernommenen Stammprioritätsactien, was natürlich nicht gesagt wird, mit 85 zur Subscription auf; der Andrang des Publicums ist groß, die Summe wird überzeichnet und das Consortium hat einen Gewinn von 200,000 Thlrn. realisirt, den es unter die Betheiligten vertheilt. – Nun schreibt der Verwaltungsrath die erste statutenmäßige Generalversammlung in Giebstadt aus.

Die Baugesellschaft, welche die eine Million Stammactien noch besitzt, bildet in der Hauptsache, in Gemeinschaft mit dem Verwaltungsrathe, den Kern dieser Generalversammlung, die Stammprioritätsactien, welche in der Stadt gezeichnet sind, werden schwach vertreten, weil deren Inhaber die Reise nach Giebstadt scheuen. Die bisherigen Mitglieder des Verwaltungsrathes werden daher fast einstimmig wiedergewählt.

Noch bleibt uns zu berichten, was die Baugesellschaft mit ihrer zum Nennwerthe gezeichneten, aber mit 50 Procent angenommenen Million Stammactien macht, denn sie will auch sie natürlich nicht behalten. Da sie die Erdarbeiten und Kunstbauten

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 593. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_593.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2019)