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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872)

Lumpengesindel bin ich nicht einmal eine nothdürftige Respectsperson!“

Und so ging’s und geht’s vielseitig noch heut zu Tage und ich würde die Episode mit dem Wiener „Fiaker-Schrecken“ längst vergessen haben, wenn nicht noch von Zeit zu Zeit, – zumal bei schlechtem Wetter, sich in der Ferse meines rechten Fußes so ein Stück Barometer fühlbar machte, der mich an jene ferne Episode gar unlieblich mahnt.[1]



Die springenden Heiligen von Echternach.


Unweit der alten Kurfürstenstadt Trier in dem kleinen luxemburgischen Städtchen Echternach, welches der einst reichen und mächtigen Benedictiner-Abtei gleichen Namens angehörte, strömen alljährlich am dritten Pfingstfeiertage Tausende von Fremden zusammen, angelockt von der Procession der springenden Heiligen, jener aus den finsteren Tagen des Mittelalters herüberragenden kirchlichen Feier. Selbstverständlich sind es nicht Heilige, welche sich sowohl zur Ehre Gottes und ihres Selbst, wie auch zum großen pecuniären Vortheil der Bewohner Echternachs an diesem Umzuge betheiligen, sondern meist arme, sündige, in geistiger Finsterniß lebende Menschenkinder, die nach dem Städtchen an der Sauer pilgern, um ein Gelübde zu erfüllen, eine Sünde abzubüßen, für einen theuren Kranken Heilung zu erstehen, oder sich in den Strudel der lockenden Vergnügungen zu stürzen. So groß übrigens die Zahl der Pilger, größer noch ist die der Neugierigen; – und es wogt und drängt sich schon am frühen Morgen in den engen Straßen und auf den Plätzen, daß man glauben könnte, ein weiterer Zuwachs der Menge sei unmöglich. Aber noch treffen beständig gefüllte Carossen, vollgepfropfte Post- und Leiterwagen und unabsehbare Züge von Fußwanderern ein.

Dort über die Sauerbrücke zieht feierlich eine lange Pilgerschaar; ihr voran leuchtet das Kreuz und eine riesige, wohl dreihundert Pfund schwere Wachskerze, die in der auf hohem Felsen erbauten Kirche geopfert werden soll. Singend und betend wandern hier die Wallfahrer zum Markte; hinter ihnen schwankt, von vier Männern getragen, ein einfacher Sarg, bestimmt, das selten fehlende Opfer der Springprocession aufzunehmen, damit es zur ewigen Ruhe auf heimischem Friedhofe gebettet werden könne. Einstweilen indeß hat der Todtenschrein eine minder tragische Bestimmung: noch dient er zur Speisekammer und birgt große Laibe braunen Brodes, Würste, Käse und ganz besonders jene bei Wallfahrten niemals fehlenden großen Waffeln, welche, alt geworden, durch Zähigkeit und Unverdaulichkeit eher an die Sohle eines Schuhes, als an irgend ein Backwerk erinnern.

Musikanten, meist schäbige Gesellen, winden sich mit ihren Instrumenten durch die Menge, oder lagern vor den Wein- und Branntweinständen, ihre Kehlen für die kommenden Anstrengungen zu stärken. Mit dem Rufe: „Wollt Ihr mich dange (dingen) für ze sprange?!“ drängen halbwüchsige Bursche sich an die Fremden heran, seelenvergnügt, wenn ein übermüthiger Tourist oder ein frommer, doch allzuträger Pilger ihnen einige Sous opfert, damit sie an seiner Statt die Mühe des Springens auf sich nehmen.

Gegen die neunte Morgenstunde löst sich das Gedränge, und unter dem feierlichen Geläute der Glocken ordnen die frommen Pilger sich zum Zuge. Langsam, einer ungeheuren dunklen Schlange gleich, wogt es heran, die ganze Breite der Straße einnehmend. Aber da blitzt kein goldenes Kreuz im Sonnenglanz, keine farbenglühenden Fahnen rauschen in der klaren Luft, kein Gebet, kein Chorgesang ist zu hören, keine blumengeschmückte Statue, kein Gewimmel weißgekleideter Kinder zu sehen – hier fehlt jeder Pomp. Voraus wird ein schlichtes Kreuz von Chorknaben getragen; ihm folgen zwei Musikanten mit quiekender Clarinette und kreischender Fiedel – und endlos dahinter die Menschenfluth.

Nach dem Tacte der Melodie:

Adam hatt’ sieben Söhn’,
Sieben Söhn’ hatt’ Adam etc.

zwei Schritte vor-, einen Schritt zurückspringend, rücken die Pilger nur langsam, in festgeschlossenen Reihen vor; die Frauen und Mädchen haben sich zum Theil untereinander an den Händen gefaßt, die in leichte blaue Blousen gekleideten Männer meist an zusammengedrehten Tüchern, während Andere jeden Halt verschmähen. Rothglühend vor übermäßiger Anstrengung, oder todtenbleich vor Erschöpfung tauchen die Menschenköpfe auf und nieder, bis die Töne von Clarinette und Geige in der Ferne verhallen und die Sprünge der Gläubigen zum Tanzschritt und endlich zum langsamen Gehen werden.

Da dröhnt plötzlich eine Trommel;

„Sieben Söhn’ hatt’ Adam,“

schmettert die Posaune und hochauf schwillt die Menschenwoge; je näher der Musik, je eifriger das Springen. Langsam und bedächtig schreitet der Geistliche im einfachen Chorrock durch die keuchende Schaar, bald zu größerer Anstrengung auffordernd, bald einen kleinen Burschen fortscheuchend, der in tollem Muthwillen mitten in die Reihen einzudringen sucht.

So wogen Tausende vorüber, die Trägen in langsamem Schritt, die Fanatischen in wilden Sprüngen, dazu angefeuert von allen nur denkbaren Musikinstrumenten, welche je zwei und zwei in der ungeheuren Menge vertheilt sind. Eine drückende Atmosphäre, angefüllt mit den Ausdünstungen der Springenden und der thrangetränkten Schuhe derselben, liegt über den Straßen und glühendheiß brennt die im Zenith stehende Sonne herab. Vor den Häusern haben die mitleidigen Einwohner große Kübel mit Wasser, Limonade, Bier, Wein und allen möglichen Getränken aufgepflanzt, die Halbverschmachteten zu erquicken. Im Fluge wird der Becher mit kühlendem Naß an die dürstenden Lippen gesetzt – und fort geht es, so lange die Sehnen den Dienst nicht versagen. Fast scheint die steigende Hitze den Eifer zu mehren. Immer mehr bleiche Gesichter tauchen auf. Dort schnellt sich ein junger Mann hoch über den in Schweiß gebadeten Menschenstrom empor; todtenblaß, das Auge starr und blutunterlaufen, weit auf den Mund, – so eilt er dahin mit flatterndem Haar und entblößter Brust, kaum seiner Sinne noch mächtig. Ein peinlicher Anblick! noch übertroffen durch jenes Weib, welches mit wogendem Busen und dunkelgeröthetem Angesicht in rasendem Wirbel sich unaufhaltsam dreht. Da – ein Schrei, der gellend die Klänge des Waldhorns übertönt, ein plötzliches Ausweichen der Menge, ein dumpfer Schlag, ein lebloser Körper wird eilig in dem nächsten Hause geborgen, – und unbekümmert zieht die Pilgerschaar vorüber.

Schon dehnen sich die Abendschatten an den rothen Bergen empor, als die letzten Wallfahrer an den Stufen anlangen, welche hinauf zur Kirche führen. Gänzlich erschöpft, vermag nur eine verschwindend kleine Zahl derselben jene hohe Felsentreppe hinauf- und herunterspringend zu ersteigen, und kaum sind die Musikanten noch im Stande, ihren Instrumenten die nöthigen Töne zu entlocken. Droben im Gotteshause stehen die Pforten weit geöffnet, die Orgel tönt, die zahllosen dargebrachten Kerzen flammen und die dichtgeschaarte Menge liegt auf den Knieen, den Segen der

  1. Auch dieser Fuß thut dem liebenswürdigen Verfasser der obigen Skizze nicht mehr weh. Denn in dem Augenblicke, wo wir dieselbe zur Druckerei geben, lesen wir in Wiener Blättern die Trauerbotschaft von dem Tode des bejahrten Herrn. Mit Em. Straube, der zuletzt in Salzburg lebte, wurde wieder ein Stück Alt-Wien begraben. Wer in den Dreißiger und Vierziger Jahren in Wien lebte, wird sich ganz wohl erinnern, daß er in literarischen Kreisen und im gebildeten Publicum den Namen Emanuel Straube stets mit Achtung und Sympathie nennen hörte. Er gehörte damals zur poetischen Tafelrunde des silbernen Kaffeehauses, wo sich täglich die Ritter vom Geiste des damaligen Wien, die Dichter Lenau, Anastasius Grün, Bauernfeld, Weigl, Witthauer, Frankl etc. zusammenfanden und die Abendstunden im vertraulichen Verkehre zubrachten. Straube war zu jener Zeit sehr fruchtbar, und zahlreiche Romane und Novellen erschienen von ihm in Journalen und Almanachen und später gesammelt in einer Reihe von Bändchen. Von Bedeutung waren besonders seine kritische Thätigkeit und seine zahlreichen Recensionen über das Burgtheater und über andere künstlerische Productionen in der Wiener Zeitung, in Witthauer’s „Wiener Zeitschrift“ und anderen Journalen. Straube, der seiner Zeit Beamter der Central-Hofstelle war, ging vor vier Jahren als Archivdirector und Ministerial-Hülfsämterdirector in Pension und zog sich nach Salzburg zurück, wo er seither lebte. Sein letzter Brief an uns datirte von Schloß Mirabell in Salzburg.
    Die Redaction.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1872). Leipzig: Ernst Keil, 1872, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1872)_194.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2021)