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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)


Leopold Rudolf Siemering ist im Jahre 1835 zu Königsberg in Preußen geboren. Bis zum vollendeten siebenzehnten Lebensjahre besuchte er die dortige höhere Bürgerschule und wandte sich dann der Erlernung des Tischlerhandwerks zu, bis er den Muth faßte, mit der Vergangenheit zu brechen und sich ganz der Kunst zu widmen. Nach erfolgter Ausbildung in der unter Director Rosenfelder stehenden Akademie in Königsberg wandte er sich nach Berlin und fand in Bläser’s Atelier Aufnahme. Der Erfolg bei der Schiller-Concurrenz ließ ihn in den stürmisch wogenden Fluthen des weltstädtischen Lebens, von denen er in Stunden des Kleinmuths verschlungen zu werden wähnte, unverhofft festen Boden gewinnen. Seit jener Zeit strebt er unverdrossen vorwärts, von der Reclame nicht getragen, von der ehrlichen Kritik, von Kunstfreunden und Genossen nach Gebühr geschätzt und anerkannt.

In Siemering’s Begabung paart sich ernste Strenge mit tiefer Empfindung. Die Eigenthümlichkeit seiner Kunstweise zeigt sich in keinem seiner früheren Werke für uns von einer so vortheilhaften Seite, als in dem Standbilde des Leibnitz, welches er für die Universität in Pest modellirt hat. Schon hier finden wir unbedingte Meisterschaft in der Feinheit und Schärfe der Charakterisirung, in der liebevollen Ausprägung der historischen Persönlichkeit. Auch das Verdienst seines Schiller gipfelt in der überzeugenden Vorführung der individuell menschlichen Erscheinung, welche allen Deutschen mit den Werken des Dichters theuer geworden ist. Eine nicht geringe Anzahl männlicher Portraitbüsten bot dem Künstler Gelegenheit zur Kraftentfaltung auf einem ihm besonders zusagenden Gebiete. In der Gunst der Massen war mit solchen Arbeiten freilich nicht sonderlich vorwärts zu kommen. Von umfangreicheren, in Marmor ausgeführten Werken sind die Statue des Königs Wilhelm in der Vorhalle der Berliner Börse und eine im Besitze des Geheimen Commerzienraths Borsig befindliche Gruppe, „Nymphe, welche den Bacchus tanzen lehrt“, namhaft zu machen. Das gelungenere Gegenstück des letzteren, „Faun, welcher den Bacchus keltern lehrt“, bildete eine Zierde der vorjährigen Berliner Kunstausstellung, harrt aber noch vergebens der Uebertragung in ein edleres Material.

Auch der Kolossalgruppe in decorativem Stil über der Front des preußischen Handelsministeriums – Vulcan und Mercur – ist als einer der schätzenswertheren Leistungen des Künstlers zu

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 773. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_773.jpg&oldid=- (Version vom 5.3.2024)