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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871)

allein ich wagte es doch nicht ohne Ilse’s Erlaubniß und legte den Brief einstweilen auf die Tischecke.

Die gewünschte Adresse meines Vaters war schnell gefunden. Als ich sein letztes Schreiben mit hastiger Hand auseinanderschlug, da stand dicht unter seinem Namen: „Firma Claudius Nr. 64 in K.“ Ein jäher Stich durchfuhr mich, und ich fühlte, wie es mir flammendheiß über das Gesicht hinlief, als ich den Namen schwarz auf weiß vor mir sah, den der Professor heute wiederholt ausgesprochen hatte. Wie prächtig verstand ich auf einmal die flüchtigen, kraus durcheinander wimmelnden Schriftzüge meines Vaters zu lesen! Der Name sprang mir förmlich in die Augen. … Ich kannte den Inhalt des Briefes, Ilse hatte ihn mir mitgetheilt; und doch fing ich jetzt an, die Zeilen noch einmal zu studiren. Ach, da war wieder einmal die ganze Oede und Trockenheit, welche die Briefe meines Vaters kennzeichnete! Er fragte nicht: was macht mein Kind? Ist es gesund und denkt es an mich? … In diesem Augenblick fühlte ich zum ersten Mal, wenn auch noch dunkel, daß mein Vater ein schweres Unrecht an mir begehe.

Die nichtssagenden Zeilen schlossen mit dem Satze. „Der Brief aus Neapel wird nicht beantwortet, und daß er meiner Mutter nie zu Gesicht kommen darf, versteht sich von selbst.“ Damit war offenbar das Schreiben gemeint, das da neben mir auf dem Tisch lag; es trug das Postzeichen Neapel und war mir nun doppelt interessant.

Das dünne Blättchen in meiner Hand aber faltete ich mißmuthig und enttäuscht zusammen – Nichts über den neuen Aufenthaltsort meines Vaters, kein Wort über seine Beziehungen zu Denen, die Claudius hießen – ich sprang auf und warf den Brief in den Kasten. Ei, was kümmerten mich die fremden Leute! Da sann und grübelte ich über Menschen und Verhältnisse, die mich nichts, aber auch ganz und gar nichts angingen, und draußen brach die Nacht herein, und Heinz polterte und rumorte immer noch im Hofe herum. Sonst, wenn er über Feierabend noch einmal zu hantiren anfing, da klopfte ich ihn auf die Finger, hing mich an seinen Arm und schleppte ihn herein auf den Fleet, auf den massiven, ungepolsterten Holzstuhl, seinen unbestrittenen Platz. Dann reichte ich ihm einen brennenden Kienspahn, und gleich darauf wirbelten die Rauchwolken um sein selig schmunzelndes Gesicht. Ilse brachte ihr Nähzeug, ich aber las mit unvermindertem Enthusiasmus immer wieder die Erzählungen vor, die ich halb auswendig wußte. War es kühl oder gar stürmisch regnerisch draußen, dann wurde das Feuer im Herd neu geschürt, und Ilse goß einen heißen Thee auf. Wonnig war es dann, auf dem geschützten Fleet, unter dem Dach zu sitzen, auf das der plätschernde Regen unermüdlich niedertrommelte; dazu der Gluthschein vom Herde her und die trauliche Stille in dem weiten, von langen Streifen der Tabakswolken durchzogenen Raum der dämmernden Tenne. Dann und wann klirrte leise die Kette an Miekes Hals, hoch oben auf den Querstangen rührte sich schlaftrunken eines der Hühner, oder Spitz dehnte sich behaglich seufzend vor dem warmen Herde – Alles, was ich liebte, geborgen inmitten der festen vier Wände!

Da war es still in meiner Seele; ich hatte keinen Wunsch, kein Verlangen; mein junges Herz war nur voll von Zärtlichkeit für die Beiden zwischen denen ich saß. … Nun drängten sich auf einmal fremde Gesichter von draußen herein, und ich erröthete heiß vor mir selber, indem ich daran dachte, was heute unter ihrem plötzlichen Einflusse aus mir geworden war. Da half kein Leugnen – statt zu dem alten Freunde zu halten, den der vornehme junge Herr mit so verächtlichen Blicken gemessen, hatte ich mich feiger Weise seiner geschämt; ich war maßlos heftig geworden, hatte mit dem Fuße gestampft ihm gegenüber, der mir allzeit mit der grenzenlosesten Geduld und Nachsicht begegnete, und ihn einfältig dafür gescholten, daß er seinen einfachen Kopf anstrengte, um genau nach meinem Wunsch und Willen zu antworten. … Und warum that ich das? Weil mir auf einmal der glorreiche Einfall kam, mit meinem berühmten Vater prunken zu wollen, mit dem Vater, für den ich nicht existirte, während ich auf Heinzens Armen groß geworden war.

Ich mußte abbitten, reumüthig abbitten, und zwar auf der Stelle, und der Entschluß wurde mir leicht gemacht, denn in demselben Augenblick ging die Thür nach dem Baumhof auf, und Heinz trat, gefolgt von Spitz, auf den Fleet.

Ich flog auf ihn zu und legte meine Hände auf seine breite Brust – höher kam ich nicht.

„Heinz, Du bist furchtbar böse auf mich, gelt?“

„Ei beileibe, davon müßte ich doch auch ’was wissen, Prinzeßchen!“ brummte er neben der Pfeife heraus. Er stand verlegen und unbeholfen wie eine Mauer vor mir und rührte kein Glied.

„Du weißt es auch, Heinz,“ sagte ich. „Geh’, zanke mich tüchtig aus. … Ich bin bodenlos ungezogen gewesen! … Gelt, das hättest Du nie von mir gedacht? – mit dem Fuße zu stampfen –“

„Ach, das war ja nur ein Späßchen –“

„Ein Späßchen? Glaub’ doch das nicht! Es war Ernst, nichtswürdiger Ernst! … Sei Du nur nicht so gut mit mir, Heinz – ich verdiene es nicht, und Strafe muß sein. … Kindisch bin ich und heftig und ein erbärmliches, undankbares Ding –“

„Ei ja – und was nicht noch Alles!“

„Ein Hasenfuß, Heinz! … Ja, siehst Du, das war’s eben, was mich so außer Rand und Band brachte. Da stand ich wie hingeschneit am Hügel, und alle die Köpfe wären doch ganz gewiß nach mir herumgefahren, wenn Du gesagt hättest –“

„Hab’ nichts gesagt! Hä, hä, hä! Nicht ein Wörtchen!“ – Er stippte bedeutsam den Zeigefinger gegen die Stirn. – „Ja, so schlau ist man auch – die hätten lange fragen können!“ – Mit einer schwerfälligen Bewegung griff er in die Brusttasche seines Rockes. „Aber das unmenschlich viele Geld, das da nur so auf den Boden hinkollerte, das haben die Leute nicht wieder genommen, durchaus nicht! … Ich hab’s auflesen müssen – und da ist’s, Prinzeßchen!“

Er zählte die blanken Thaler in langer Reihe auf seine Rechte. Seine kleinen Augen glitzerten und funkelten und huschten liebäugelnd darüber hin.

Fünf Silberstücke – für jede Perle eins! So war es gemeint gewesen. Das „Hier, mein Kind!“ des alten Herren hatte so selbstverständlich geklungen als seien die Dinger da von mir verlangt worden, und ich hatte die Perlen doch hinschenken wollen. Das verdroß mich jetzt erst über die Maßen.

„Ich will sie nicht, Heinz!“ grollte ich und stieß nach seiner Hand.

Das Geld rollte abermals hinab. … Was war das für ein entsetzliches Geräusch, als die schweren Metallstücke klingend und klirrend auf das harte Steinpflaster niederschmetterten! … Ich hatte es noch nie, und der Dierkhof wohl seit vielen Jahren nicht mehr gehört.

Unwillkürlich fuhr ich herum, und mein Blick zuckte scheu über das Fenster, das nach dem Fleet mündete. Hinter den halbblinden Scheiben hing ein dicker, farbenbunter Plüschteppich, den, so lange ich denken konnte, nie eine Hand von drinnen gehoben hatte – jetzt wurde er zurückgeschleudert, und die Augen meiner Großmutter funkelten heraus.

Das war ein Anblick, der dem Beherztesten Grauen einflößen konnte. Zitternd bückte ich mich, um das Geld zu sammeln; aber da flog auch schon die neben dem Fenster befindliche Thür auf – wie ein Windstoß brauste es heran – ich wurde an der Schulter gepackt und auf die Tenne hinabgestoßen.

„Nicht anrühren!“ gellte es mir in die Ohren. Welch einen erschütternden Klang hatte doch die Stimme, die seit langen Jahren für mich verstummt war! Ich schlug entsetzt die Augen auf.

Da stand die gewaltige Frau und schüttelte grimmig die Faust nach Heinz hin. „Du“ – zischte es drohend von ihren Lippen.

„Gut sein, gnädige Frau, gut sein!“ stotterte er bittend. „Ich trage ja gleich, jetzt auf der Stelle, das ganze dumme Lumpenzeug ’nüber in den Fluß!“ Er zitterte wie Espenlaub – ich sah zum ersten Male, daß diese unverwüstlich frische Gesichtsfarbe bis in die Lippen erbleichen konnte.

Sie wandte ihm mit einer heftigen Bewegung den Rücken. Die langen, grauen Flechten peitschten ihre Hüften, und ich erwartete unter stockenden Pulsen, daß sie sich wieder auf mich stürzen werde. Da stieß ihr Fuß an eines der Geldstücke; sie fuhr zurück, als habe sie auf eine Schlange getreten. – Nun kam ein Schauspiel, das ich nie, nie vergessen kann. Kichernd schleuderte sie das Geldstück mit der Fußspitze fort, daß es weithin

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1871). Leipzig: Ernst Keil, 1871, Seite 546. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1871)_546.jpg&oldid=- (Version vom 1.3.2018)